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Warten auf die Stasi-Akten

Pünktlich zum neuen Jahr soll das Stasi-Aktengesetz in Kraft treten. Ob die Terminplanung klappt, hängt wesentlich davon ab, ob sich die Parteien heute im Bonner Rechtsausschuß einigen können. Ein Gesetz und seine Stolpersteine, dargestellt an einem Fallbeispiel  ■ VON WOLFGANG GAST

Heute ist er beinahe schon priviligiert: Michael Beleites, Bürgerrechtler und Verfolgter im DDR- Staat. Er kennt seine Stasi-Akte, seine ehemaligen Peiniger, seine echten und falschen Freunde — als einer von wenigen hat er die Geschichte seiner Verfolgung anhand der Stasi-Unterlagen aufarbeiten können. „Schlanke Gestalt, Ansatz zur Wirbelglatze, auffallend spitze Nase und schnell, weit ausholende Schritte, leicht schaukelnder Gang“, so beschrieben die Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes den heute 27jährigen aus dem thüringischen Gera. Auch Charakterliches hielten die Stasi-Mitarbeiter der Kreisdienststelle in Hohenmölsen fest: „Der B. (ist) sehr willenstark, dabei jedoch eigensinnig und in gewissem Rahmen sporadisch und unberechenbar.“

Am 1.März 1990, zweieinhalb Monate nach der Erstürmung der Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße, durfte Michael Beleites für zwei Stunden seine 300 Seiten dicke Akte einsehen; unter der Aufsicht und den Augen von Michael Trostorff, dem früheren Leiter der Bezirksverwaltung Gera, die damals noch in „Bezirksamt für Nationale Sicherheit“ umgetauft war und in den letzten Zügen ihrer Auflösung lag. Zugegen war auch der zuständige Regierungsbeauftragte der Modrow-Regierung, Nobert Kobus, der die Akteneinsicht nach langwierigen Verhandlungen genehmigt und im Gegenzug dafür dabei sein wollte, „wenn Sie Ihre Akten lesen“. Zusammen konnten der ehemalige Bezirkschef und der Regierungsbeauftragte dem gelernten Tierpräparator mühelos erklären, was sich hinter den Stasi-Abkürzungen in den Akten verbarg: OPK stand für „operative Personenkontrolle“, IM für die inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi, die den Oppositionellen über Jahre bespitzelt hatten, PUT für die ihm zu SED-Zeiten zur Last gelegte politische Untergrundtätigkeit und TOV für den „Teil-Operativ-Vorgang“, den die Staatssicherheit über ihn angelegt und mit dem Code-Namen „Entomologe“ versehen hatte. Auf den Decknamen Entomologe (Insektenforscher) verfielen die Stasi-Mitarbeiter offenbar, weil sie wußten, daß Michael Beleites im Sommer 1982 öfters mit einem Schmetterlingsnetz unterwegs war, um in der Vorbereitung seiner Präparatorenausbildung eine kleine Insektensammlung anzulegen. Sich selbst fand der Überwachte als „der Verdächtigte“, „das Objekt“, die „OV- Person“ und sogar als „unsere OV- Peson“ in den Unterlagen wieder. Die Zeit für das Studium der Akten war um vieles zu kurz — Michael Beleites erkannte aber schnell, daß „tatsächlich nahezu alle Behinderungen und Ungerechtigekeiten, die ich in den vergangenen Jahren erfahren hatte, von der Stasi veranlaßt waren“.

Bislang war es nur einem Bruchteil der Stasi-Opfer möglich, einen Blick in die eigene Stasi-Akte zu werfen. In den Besitz seiner Unterlagen gelangte der 27jährige über seine Mitarbeit im Geraer Bürgerkomitee zur Auflösung der Staatssicherheit. Wenige Wochen nach der Akteneinsicht nutzte er die Gelegenheit, seine Akte zu kopieren — was er eigentlich nicht gedurft hätte, aber als „Entschädigung für die staatlich organisierten Ungerechtigkeiten der letzten Jahre“ betrachtete. Anderen blieb und bleibt dieser Weg versperrt. Nach der geltenden Rechtslage ist ein entsprechender Versuch sogar strafbar.

Gesetz in der Warteschleife

Zwei Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR und ein Jahr nach der Deutschen Einheit gibt es immer noch keine gesetzliche Grundlage, die den Verfolgten und Bespitzelten der Staatssicherheit die Möglichkeit eröffnet, das eigene Schicksal zu recherchieren. Die vielbeschworene Aufarbeitung der Geschichte und die Offenlegung der Strukturen des Repressionsapparates sind bislang ebensowenig in Gang gekommen, wie die Rehabilitierung der Stasi- Opfer. In diesem Klima brodelt die Gerüchteküche, Anschuldigungen sind kaum überprüfbar, und niemand kann zur Verantwortung gezogen werden.

Seit den Verhandlungen zum Deutschen Einigungsvertrag streiten die Bonner Parteien um eine einvernehmliche Lösung für ein Stasiunterlagengesetz, das amtsdeutsch mit den Buchstaben StUG abgekürzt wird. Mit am Verhandlungstisch saßen ursprünglich auch die Vertreter der Bürgerbewegung. Mit ihrer Besetzung der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin, mit Mahnwachen und am Ende mit einem Hungerstreik erzwangen sie gegen den Widerstand der Bonner Ministerialbürokratie eine grundsätzliche Regelung im Einigungsvertrag, wonach die Stasi- Akten in einer eigenständigen Behörde unter der Aufsicht eines ehemaligen DDR-Bürgers verwahrt und für spätere Auskünfte und Rehabilitierungsverfahren zur Verfügung gehalten werden. Vereinbart wurde auch, daß der neue gesamtdeutsche Bundestag schnellstmöglich eine gesetzliche Regelung für den weiteren Umgang mit der Stasi-Hinterlassenschaft verabschieden soll. Ein Gesetz sollte es sein, das über die Grenzen der einzelnen Fraktionen hinweg von allen im Bundestag vertretenen Parteien getragen wird. Mit den Worten des innenpolitischen Sprechers der CDU/CSU-Fraktion, Johannes Gerster: es galt, „das schwierigste Gesetz dieser Legislaturperiode“ auf den Weg zu bringen.

Ein gemeinsamer Entwurf von CDU, SPD und FDP liegt mittlerweile vor, doch der angestrebte Allparteienkonsens ist längst zerbrochen. Während die PDS von Anfang an als Rechtsnachfolgerin der einstigen SED von den Beratungen ausgeschlossen wurde, kündigte das Bündnis 90/Grüne im Mai den Konsens auf und legte gemeinsam mit den Bürgerkomitees zur Stasi-Auflösung einen eigenen Gesetzentwurf vor. Beiden Entwürfen gemeinsam ist ein weitreichendes Aktenauskunfts- und Einsichtsrecht. Die parteiübergreifende Koalition zerbrach aber an der Frage, wieweit den Geheimdiensten im neuen Deutschland ein Zugriff auf die illegal angelegten Akten eingeräumt und wie die Stasi-Unterlagenbehörde künftig organisatorisch aufgebaut werden soll. Bürgerkomitees und Bündnis 90 fordern ein Ländermodell mit einer dezentralen Verwaltung der Stasi-Archive, die Altparteien und die Gauck-Behörde favorisieren dagegen eine zentrale Bundesbehörde. Von Anfang umstritten und letztlich immer noch nicht abschließend geregelt ist auch die Frage, welchen Zugriff die Justiz auf die Unterlagen der Staatssicherheit erhalten soll und wie die Personenrechte der widerrechtlich Erfaßten gesichert werden können.

Recherche auf eigene Faust

Nachdem er seine Akte eingesehen hatte, stellte sich der frühere Oppositionelle Michael Beleites die Frage: „Welche Menschen haben das getan, und was haben sie sich dabei gedacht?“ Anhand der Unterlagen erkannte der ehrenamtliche Kirchenmitarbeiter schnell, daß seine Mitte Februar 1990 bei der Geraer Staatsanwaltschaft eingereichte Strafanzeige, mit der er die Hintergründe des erlittenen Unrechts ermitteln wollte, eigentlich zu wenig gebracht hätte. Das Strafverfahren hätte auch nach dem damals geltenden DDR- Recht nur zur Ermittlung des strafrechtlich relevanten Teils der Stasi- Aktivitäten geführt. Möglicherweise hätte dies Anklagen wegen Rechtsbeugung, Freiheitsberaubung, Nötigung oder Behinderung der Religionsausübung zur Folge gehabt, eine Offenlegung des gesamten Hintergrundes wäre aber kaum zustandegekommen — geschweige denn, daß ehemalige Mitarbeiter der Stasi ihm, wie es später geschehen ist, ihre Motive offengelegt hätten.

Die Stasi-Aktenbehörde rechnet mit zigtausenden von Antragstellern, die, wie Michael Beleites, die Stasi-Version ihrer eigenen Geschichte kennenlernen wollen. Auch wenn es den meisten weniger um eine juristische Verfolgung der für sie zuständigen Stasi-Leute gehen dürfte, werden sie sich wohl oder übel eine geraume Zeit gedulden müssen. Selbst wenn die Gauck-Behörde von derzeit etwa 600 Mitarbeitern auf über 3.000 aufgestockt würde, wird es Zeit in Anspruch nehmen, den Berg der Anfragen abzutragen.

Die besondere Aufmerksamkeit der Stasi verdankt Beleites einer aufsehenerregenden Studie, die er 1988 unter dem Titel Pechblende in der DDR veröffentlichte. In ihr wurden erstmals die „Folgen des Uranabbaus in der DDR“ publik gemacht. Zusammen mit dem Kirchlichen Forschungsheim Wittenberg und den „Ärzten für den Frieden“ aus Ostberlin hatte der Umweltkritiker mühevoll auf 64 Seiten Fakten über die radioaktive Verseuchung und die strahlungsbedingten Gesundheitsschäden im Süden der DDR zusammengetragen. Dabei beschrieb er auch die weitgehend geheimgehaltene Produktion von Unrankonzentrat in der sowjetisch-deutschen Wismut-AG, die den Rohstoff für Atombomben und Kernreaktoren in die Sowjetuniuon exportierte. Die Uranerzanlagen der Wismut galten als eines der größten Staatsgeheimnisse im ersten Arbeiter-und-Bauern- Staat. Für die Beschäftigung mit dem Tabuthema riskierte der engagierte Umweltmann einige Jahre Haft. Aus seinen Akten konnte Beleites erschließen, wie der Staatssicherheitsdienst versuchte, ihn, den unbequemen Kritiker, kalt zu stellen. Eine Verhaftung, so die Stasi-Vermerke, sei nicht in Frage gekommen. Die Ökö-Studie war über Umwege in den Westen gelangt, eine Festnahme des Autors hätte aus der Sicht der Stasi nur zu deren Aufwertung geführt. Statt dessen sollte anschließend die Existenz des Kritikers regelrecht vernichtet werden. Michael Beleites wurde beim Studium seines Dossiers erstmals klar, wie dicht das hinter den Repressionen geflochtene Netz von Einflußnahmen der Stasi auf Freunde, Arbeitskollegen, örtliche Dienststellen und Kirchenmitarbeiter war. Wegen der „Gefährlichkeit seiner Person“, mußte er nachlesen, hatte die Stasi zu dem Mittel gegriffen, das sie als „Durchsetzung politisch-operativer Maßnahmen zur Verunsicherung, Zersetzung und Disziplinierung“ bezeichnete.

Nach der geltenden Benutzerordnung der Stasi-Unterlagenbehörde hätte der Wismut-Kritiker auch heute noch keine Chance, das Ausmaß und Wirken der Stasi gegenüber seiner Person nachzuzeichnen. Aktenauskunft oder -einsicht wird bisher nur in den Fällen gewährt, in denen Antragsteller die Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte glaubhaft vorbringen können. In aller Regel setzt dies aber den Blick in die eigene Akte voraus. Größte Bedeutung hat denn auch nach Überzeugung aller Beteiligten die Regelung des Akteneinsichts und -auskunftsrechtes für das geplante Stasi-Unterlagengesetz.

Ständige Nachbesserung des Entwurfs

Im Prinzip haben sich alle Bonner Parteien bereits im Frühjahr darüber verständigt, DDR- und Altbundesbürgern das Recht einzuräumen, in den sechs Millionen Personalakten der Staatssicherheit nach Vermerken über die eigene Person zu forschen. Strittig bis heute sind aber die einzelnen Ausführungsbestimmungen, und die Frage, wieweit auch ehemalige Stasi-Mitarbeiter Einsicht in die eigenen Unterlagen nehmen dürfen. Unter der Regie der Fraktionsobleute Willfried Penner, Burkhard Hirsch und Johannes Gerster wird der gemeinsame Entwurf von SPD, FDP und CDU ständig nachgebessert — nicht immer im Sinne einer besseren Möglichkeit zur Geschichtsaufarbeitung, wie Kritiker monieren. So wurde beispielsweise jüngst eine Regelung in den Entwurf aufgenommen, die der Bonner Datenschutzbeauftrage Einwaag eingeklagt hat. Mit ihr soll der Jugendschutz gewahrt werden. Würde die eingebrachte Passage im Entwurf nun verabschiedet, dürfen Namen und Decknamen minderjähriger Inoffizieller Mitarbeiter den Antragstellern nicht preisgegeben werden. Für einen ehemaligen Oberrealschüler, der nach der Denunziation eines Mitschülers die Schule verlassen mußte, hätte dies zur Folge, daß er den Namen des Verantwortlichen nie erfahren wird, wenn dieser zum Zeitpunkt der Denunziation gerade erst 17 Jahre alt war. Der Jugendschutz wird umgekehrt sogar zum Täterschutz, denn der frühere Inoffizielle wird vor einer Offenlegung seiner Akte geschützt. Während das Opfer noch heute rätselt, wer für den Bruch seiner schulischen Laufbahn verantwortlich ist, kann der damalige Denunziant im Schatten des Jugendschutzes ungestört seiner Karriere nachgehen.

Es ist gerade die lückenlose Offenlegung, die Stasi-Opfer wie Michael Beleites einklagen. „Es geht darum, zu wissen, was genau gewesen ist“, erklärt Beleites, der seine Geschichte minutiös in dem Buch Untergrund — Ein Konflikt mit der Stasi in der Uranprovinz beschrieben hat. Mit einem Nebel der Vermutungen hätte er nicht weiterleben können, sagt er. Die eigentliche Überraschung in den Gesprächen mit den für seinen Fall verantwortlichen Stasi- Mitarbeitern sei gewesen, „daß die tatsächlichen Organisatoren der Verfolgung von ihrer Persönlichkeitsstruktur her keine Gangster, keine besonders aggressiv veranlagten Menschen und auch keine oberflächlichen Schauspielertypen sind. Es war für mich schwer vorstellbar, daß gerade diese Leute mir so viel Ärger organisiert haben.“ Ohne das Studium der Akten, meint er rückblickend, hätte er warscheinlich kein Interesse an Gesprächen mit „seinen“ Stasi-Mitarbeitern gehabt. Erst durch die schriftlichen Unterlagen sei vieles überprüfbar geworden. Nur so hätte er bei Gesprächen mit den Ehemaligen des Ministeriums, zu deren Beruf die „Arbeit mit Legenden“ gehörte, nicht mehr blind auf deren Angaben vertrauen müssen. Für ihn sei dies auch die Voraussetzung dafür gewesen, auf die Täter zuzugehen, „ihnen die Hand reichen und schließlich auch Entschuldigungen entgegennehmen“ zu können. Die Demütigungen der vergangen Jahre sind für ihn „durch die Lektüre der Akten als tatsächliche, faßbare Ungerechtigkeiten und Verfolgungen aus dem Nebel der Stasi-Konspiration herausgetreten“ und hätten scharfe Konturen angenommen. Der Autor heute: „Ohne diese Klarheit ließe sich kein Haß abbauen.“

Die Stasi-Opfer warten

Die Verabschiedung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes, das der Gauck- Behörde auch die Befugnis an die Hand geben würde, eigene Erkenntnisse über Menschenrechtsverletzungen und strafrechtlich bedeutsame Delikte den Gerichten und Staatsanwaltschaften mitzuteilen, ist vielfach angekündigt, aber immer wieder hinausgeschoben worden. Als realistischer Termin wird nun der 1.Januar 1992 genannt. Dies setzt allerdings voraus, daß sich die Parteienvertreter im Innen- und Rechtsausschuß des Bundestages bei ihrer heutigen Sitzung auf eine gemeinsame Fassung des Gesetzentwurfes einigen können. Angesichts des aufwendigen parlamentarischen Weges könnte es sonst Terminschwierigkeiten geben. Bei der letzten Sitzung vor zwei Wochen kam es im Innenausschuß zum Eklat. Quer durch die Parteien wurde den mit dem Gesetzentwurf befaßten Obmännern Hirsch, Penner und Gerster vorgeworfen, sie würden beinahe schon konspirativ und unter Ausschluß der ostdeutschen Abgeordneten versuchen, sich auf einen genauen Gesetzestext zu verständigen. Die Wessis mußten sich eine gehörige Standpauke ihrer Parteikollegen gefallen lassen. Hoffentlich hat sie gewirkt — die Stasi-Opfer warten.

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