: Zusammenhänge lernen statt purer Fakten
■ An der freien Universität wird ein Reformstudiengang Medizin bis Mai 1992 dem Wissenschaftsrat vorgelegt/ 60 StudentInnen sollen ihn im WS 1993/94 erproben/ Wichtigste Erneuerung des aus dem Studentenstreik entstandenen Projekts: Problemorientiertes Lernen
Berlin. Anstatt Wissen systematisch in die Köpfe der MedizinstudentInnen zu pauken, sollen die angehenden ÄrztInnen schon während ihres Studiums krankheitsbezogen lernen. Wenn also ein Ellenbogen weh tut, sollen sie beispielsweise nicht nur Anatomie herunterbeten, sondern auch erkennen können, wo die Ursachen des Schmerzes liegen. So stellen es sich Eberhard Göbel, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Geschichte der Medizin, und Sven Remstedt vor. Der Medizinstudent arbeitet in der Inhalts-AG und in der Planungsgruppe Reformstudiengang Medizin mit, die beide aus dem UniMUT-Streik 1988 hervorgingen. Häufiger Kritikpunkt am Medizinstudium sei die Approbationsordnung (AO), die das Studium zu sehr reglementiere. Deshalb fordere die Planungsgruppe eine sogenannte Experimentierklausel, die den Fakultäten in der Gestaltung des Studiums mehr Spielraum lasse.
Sven Remstedt erzählte, die Planunsgruppe Reformstudiengang Medizin befasse sich zur Zeit mit der Ausarbeitung eines Basiswissenkataloges. Sie versuche, das für die Studierenden relevante Wissen einzugrenzen. Denn der Gegenstandskatalog, der vom Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP) vorliege, berühre Themenbereiche, die eigentlich zu der Ausbildung eines Facharztes und nicht zum Grundwissen für AbsolventInnen der Hochschule und BerufsanfängerInnen gehörten.
Problematisch sei, daß das gelernte Wissen in den Prüfungen abgefragt, im Studium jedoch nicht krankheitsbezogen gelehrt werde. Die Studis sollen aber nach dem neuen Modell ihre Kritikfähigkeit schulen und lernen, auch im Beruf die Notwendigkeit der Weiterbildung zu erkennen.
Sven Remstedt erläuterte, wie der Studiengang in Berlin aussehen solle. »Wir streben ‘problemorientierte Lerngruppen‚ an, die vom Hochschullehrer betreut werden.« In diesen Gruppen werden die StudentInnen anhand von bestimmten Krankheitsbildern selbst entdecken, wie sie ein Problem lösen könnten und dann Problemlösungsstrategien entwickeln. Was an Wissen fehlt, sollen sie sich weitgehend selbst erarbeiten, die HochschullehrerInnen dazu allenfalls begleitende Anleitung geben. Wir nennen das strukturiertes autonomes Lernen, so Remstedt. Damit wollen sie an die bereits seit neun Jahren bestehenden Orientierungseinheiten anknüpfen. MentorInnen veranstalten sie ganztägig während der ersten Semesterwoche. Darin stellen zum Beispiel Professoren unterschiedlicher Fachrichtungen ein Krankheitsbild komplex dar und verdeutlichen den StudentInnen die Zusammenhänge. Im Laufe ihres Studiums müssen sich die Studierenden dann die Zusammenhänge selbst schaffen. Nach der siebten AO-Novelle ist das zwar Aufgabe der Fachbereiche, faktisch blieb dies jedoch Sache der StudentInnen.
Das Reformprogramm und die darin enthaltene Finanz- und Kapazitätsplanung soll im Mai 1992 dem Wissenschaftsrat vorgelegt werden. Im WS 1993/94 soll der erste Versuch des Modellstudiengangs Medizin anlaufen und vorerst 60 StudentInnen zugelassen werden. Die Probephase werde drei Semester dauern. »Wenn sich die Reformen bewähren, kann die Hälfte der StudentInnen, später vielleicht alle, nach dem Reformprogramm studieren«, hofft Sven Remstedt. Die ReformerInnen wollen außerdem Ablauf und Inhalt der Prüfungen verändern. »Bisher waren der Willkür Tür und Tor geöffnet, weil in den Prüfungen keine Stringenz zu erkennen war und nicht klar ist, worauf die Prüfung hinausläuft«, erklärte der Arbeitsgruppen-Mitarbeiter. »Deshalb wollen wir versuchen, die Prüfung zu standardisieren.« Schon heute gibt es Beispiele, bei denen Praktika anders ablaufen, nicht zuletzt auch wegen der Reformfreudigkeit von Professoren. So zum Beispiel Kinderheilkunde im Universitätsklinikum Rudolf Virchow. Die Praktika sollen, anstatt wie bisher eine Stunde wöchentlich, im Block drei Wochen lang stattfinden. Vormittags begleiten die Studierenden einen Arzt oder eine Ärztin auf einer Station, nachmittags besprechen sie unter Anleitung eines Hochschullehrers ihre Erfahrungen. Die angehenden ÄrztInnen sollen das, was sie gesehen haben, erklären und feststellen, welches Wissen ihnen fehlt, um einen Fall weiterbehandeln zu können. Dies funktioniere seit eineinhalb Jahren und sei bei den StudentInnen sehr beliebt. Susanne Landwehr
Weitere Informationen: Eberhard Göbel/Sven Remstedt: »Leitfaden zur Studienreform für Medizinstudierende«, Mabuse-Verlag, Best.-Nr.: ISBN 3-925499-51-2
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