piwik no script img

Der mögliche Anfang einer Freundschaft

■ Obdachlose und behinderte Frauen wagten mit Hilfe des Sozialamts Spandau eine gemeinsame Fahrt auf eine Insel

Spandau. Für Waltraud T. war es die erste Reise nach sieben Jahren. Die seit langem obdachlose Frau hatte ihre eigenen Probleme und »mit alten Frauen nie was am Hut gehabt«. Durch eine vom Sozialamt Spandau für obdachlose und behinderte Frauen organisierte Reise nach Norddeutschland kam sie zum ersten Mal mit ihnen in Kontakt. Die etwa sechzigjährige Gerda S. hatte Obdachlosen gegenüber überhaupt keine Vorurteile. Auch die große Tätowierung am linken Unterarm von Waltraud T. störte sie keineswegs. Beide sprachen von »einer beginnenden Freundschaft, die sich noch vertiefen kann«. Gerda S. hatte anfangs Angst, »die Fahrt nicht zu überstehen«. Auf Drängen ihrer Tochter fuhr sie dann doch mit und möchte die Erlebnisse auf keinen Fall missen. Waltraud, die »darauf abgefahren ist, gemeinsam Karten zu spielen«, sagt ihr lachend, das mit der Freundschaft müßte sie sich noch überlegen. Beide kichern hinter vorgehaltener Hand. Dank des Engagements der Sozialarbeiterinnen Birgitt Fiedler und Ursula Schulz-Stattaus, der Stadträtin Renate Mende und der Unterstützung durch das Sozialamt kam es zu dieser bislang einzigartigen Fahrt. Finanziert wurde sie zum Teil aus Spendengeldern und der Sozialhilfe der Teilnehmerinnen für die Dauer der Reise.

Der Fahrt vorausgegangen waren einige »Feuerproben« in Form von Informationstreffen und einem Tagesausflug nach Potsdam. Die Befürchtungen der Sozialarbeiterinnen, daß diese beiden unterschiedlichen Gruppen nichts miteinander zu tun haben wollen, bewahrheiteten sich nicht. Nach Meinung der behinderten Frauen »sind die obdachlosen Frauen sogar noch schlimmer dran«. Schon bei dem Ausflug nach Potsdam habe sich gezeigt, daß sich die nichtbehinderten Frauen mit großer Selbstverständlichkeit und einem Gefühl der Verantwortung um die behinderten Frauen der Gruppe kümmerten. Dieses Gefühl des Zusammenhalts setzte sich auf der gemeinsamen Fahrt fort.

Ziel der Reise war ein Erholungsheim auf der Insel Wangerooge, das von geistig behinderten Erwachsenen bewirtschaftet wird. Die anfänglichen Schwierigkeiten der obdachlosen und körperlich behinderten Frauen, nun auch noch mit geistig Behinderten zusammenzuwohnen (Waltraud S.: »Die ha'm wohl'n Harry an der Leine«) wurden durch den gemeinsamen Küchendienst, die Selbstverpflegung und das tägliche Aufeinanderangewiesensein überwunden. Begeistert schilderten die Frauen, wie sie längst verschüttet geglaubte kreative Fähigkeiten und Interessen wiederentdeckt hätten. So wollte die sehbehinderte Barbara H. erst gar nichts wissen von der Seidenmalerei. Beim gestrigen Pressegespräch hatte sie dann ihr selbstgefertigtes Tuch umgebunden.

Die Fahrt, so die Stadträtin, habe den Teilnehmern Selbstvertrauen, Freude und Gesprächsstoff für die nächsten Monate gebracht, den beiden Sozialarbeiterinnen Mut für weitere Unternehmungen. Die nächste Reise ist für Mai 92 geplant. wahn

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen