Zeitschriften: Babylon

M I C H A E L M A R E K In unserer christlich-abendländischen Industriegesellschaft artikulieren sich Sinnkrisen immer auch als Krisen im Verhältnis von Juden und Nichtjuden. Das „Jüdische“ wird dabei leicht zur Metapher für eine nur schwer zu durchschauende Moderne: So die Herausgeber der Zeitschrift 'Babylon‘ im Editorial der ersten Ausgabe.

Die Anlässe für eine solche Einschätzung waren zahlreich: die Historikerdebatte, die Affäre um den Besuch von Kanzler Kohl und US- Präsident Reagan auf dem SS-Friedhof Bitburg, das Wort von „der Gnade der späten Geburt“ ebenso wie latenter Antisemitismus und virulenter Antizionismus bei Teilen der Grünen. Als 'Babylon‘ im Herbst 1986 auf den Buchmarkt kam, wurde die „negative Symbiose“ (Dan Diner) zwischen Deutschen und Juden aufs Neue bestätigt — über konfessionelle und parteipolitische Grenzen hinweg. Seit mehr als vier Jahrzehnten ist für beide der Holocaust zum Ausgangspunkt ihres Selbstverständnisses geworden, wenngleich in gegensätzlicher Weise. Das hat zuletzt der Golfkrieg in erschreckender Weise gezeigt: Die einen suchen nach Entlastung von der NS-Vergangenheit und exportieren bedenkenlos Giftgas, die anderen hoffen auf die Anerkennung ihrer Verfolgung.

Die Zeitschrift 'Babylon‘ versucht nichts Geringeres, als diesen historischen Bedingungen im deutsch-jüdischen Verhältnis nachzugehen. Vor allem ihre aktuellen Folgen für das Zusammenleben aufzuzeigen, das dokumentieren die Beiträge der bisher erschienenen Hefte. Dem Leser eröffnet sich dabei ein breites Spektrum an gegenwartsbezogenen Themen. Das schließt Analysen zur „Intifada“ ebenso ein wie zu den Auswirkungen der deutschen Neuvereinigung für die jüdische Minderheit oder zum Fortdauern des Auschwitz-Traumas bei Kindern von Überlebenden. Überhaupt ist (und bleibt) die Zeit des Nationalsozialismus inhaltlicher Bezugspunkt der Zeitschrift. So beschäftigt sich beispielsweise der Historiker Saul Friedländer mit der Bedeutung der Shoah für das israelische Gemeinwesen (Historiographie und Erinnerung, Heft 2). Er kommt zu dem Ergebnis, daß gerade am Palästinakonflikt politische Haltungen beteiligt sind, die sich nicht aus dem Konflikt vor Ort ergeben haben. Vielmehr legitimier(t)en viele Israelis den Kampf und das Engagement für ihr Land mit Erfahrungen, die sich auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 bezogen. Der Holocaust, bis zum Sechstagekrieg Sinnbild nationaler Identität, verkam mehr und mehr zu einem Element der innergesellschaftlichen Konfrontation. In gewissem Sinne, so Friedländer, wurde der Holocaust instrumentalisiert, etwa in der Tendenz, die Feindseligkeit der Araber mit der Haltung der Nazis den Juden gegenüber gleichzusetzen. Eine fatale Rechtfertigungsideologie, die Friedländer zu Recht wegen des messianischen Nationalismus kritisiert.

Weitere Schwerpunktthemen der Zeitschrift waren unter anderem die sogenannte Reichskristallnacht und jüdisches Leben in der Diaspora (Heft 5). Nicht minder interessant und aufschlußreich sind die Essays über den 40. Jahrestag der Staatsgründung Israels (4) oder über den Zusammenhang von deutscher Identität und der Wirkungsgeschichte der NS-Verbrechen (7).

Unter den Judaika stellt 'Babylon‘ eine bemerkenswerte Publikation dar und hat sich mittlerweile einen festen Leserkreis erobert: als intellektuelles Forum, das sich in essayistischer Form mit jüdischen Themen beschäftigt. Mit diesem Programm verbindet die Zeitschrift zwei unterschiedliche Perspektiven: Wie sehen sich Juden selbst? Wie werden Juden, zumal in Deutschland und den USA, gesehen? Die Antworten offenbaren nicht nur eine Gemengelage aus Idealisierungen, Projektionen und Verhöhnungen. Sie spiegeln zugleich die kulturelle und politische Befindlichkeit unserer Gesellschaft. Zu diesem Ergebnis muß man nach der Lektüre der gerade erschienenen Ausgabe kommen (Jüdisches Leben in Deutschland seit 1945).

Doch nicht allein deswegen verdient die neueste Nummer der Zeitschrift besondere Aufmerksamkeit. Vor allem beschäftigt sie sich mit der Frage, wie Juden als selbstbewußte Minderheit in Deutschland leben können, das heißt: welche praktischen Konsequenzen hieraus folgen sollen. Vorherrschend sind in der Bundesrepublik noch immer zwei Haltungen. Zum einen verhinderte das Leben nach der Shoah eine bewußte und geplante Existenz in Deutschland. Die Mentalität der „gepackten Koffer“ steht hierfür. Zum anderen führte die Auseinandersetzung mit dem Staat Israel und seiner Okkupationspolitik zu einer kritischen Solidarität mit dem jüdischen Gemeinwesen. Das trifft ohne Zweifel für die meisten Autoren von 'Babylon‘ zu. So auch auf Josef Dan, Professor für Geistesgeschichte an der Universität Jerusalem, der in seinem Beitrag den enormen Einfluß des orthodox-religiösen Lagers auf die israelische Gesellschaft kritisiert.

Die Autoren beschäftigen sich mehrheitlich mit Problemen des politisch-kulturellen Wandels. So auch der israelische Historiker Frank Stern, der nicht ohne berechtigte Polemik den Übergang vom antisemitischen Tabu zum instrumentalisierten Philosemitismus in der bundesdeutschen Nachkriegsöffentlichkeit beschreibt. Hervorgehoben seien auch Monika Richarz' Anmerkungen über die Schwierigkeiten deutscher Heimatforscher, jüdisches Leben in der Provinz zu rekonstruieren. Und Oliver Tolmeins Nachlese zur Kontroverse um den Euthanasiebefürworter und jüdischen Moralphilosophen Peter Singer. Die Streitbarkeit der Artikel hebt sich dabei allemal wohltuend von der Betulichkeit anderer Zeitschriften ab.

'Babylon‘ weist noch eine andere Besonderheit auf. Neben den Aufsätzen besteht jede Ausgabe aus zwei festen Rubriken: einem Rezensions- und einem Diskussionsteil (Aus den Arsenalen). Hier werden vorwiegend ältere Texte kritisch vorgestellt, die — wie die Herausgeber betonen — rezeptionsgeschichtlich von Bedeutung sind oder einer Neuinterpretation bedürfen wie etwa die anhaltende Debatte über Wucherklischees am Übergang zur Neuzeit (Klaus Reichert). Zu nennen ist auch die Vorstellung der erst kürzlich veröffentlichten Dissertation Erich Fromms aus dem Jahre 1922 — einer ebenso scharfsinnigen wie irritierenden Analyse zur Soziologe des Diaspora-Judentums, irritierend deshalb, weil Fromm als ein Vertreter der Frankfurter Schule sprachlich und gedanklich auf antisemitische Stereotype zurückgreift.

'Babylon‘ hat sich zu einem bedeutsamen Periodikum entwickelt, das die Auseinandersetzung um das deutsch-jüdische Verhältnis neu entfacht, einem streitbaren zudem, intellektuell anregend und engagiert zugleich.

'Babylon‘ Heft 8, Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main 1991, 158 Seiten, 20 D-Mark (die sieben bisher erschienenen Hefte sind noch lieferbar). — Die Zeitschrift 'Babylon — Beiträge zur jüdischen Gegenwart‘ erscheint zweimal im Jahr und wird von Micha Brumlik, Dan Diner, Susann Heenen-Wolff, Gertrud Koch, Cilly Kugelmann und Martin Löw- Beer herausgegeben. Sie ist im Buchhandel erhältlich oder kann direkt über den Verlag Neue Kritik, Kettenhofweg 53, 6000 Frankfurt/M. 1, bezogen werden. Ein Jahresabonnement (2 Hefte) kostet 40 D-Mark (Lieferung portofrei), das Einzelheft 20 D-Mark (plus Versandkosten).