INTERVIEW
: „Die Täter kommen davon“

■ Ralph Giordano über die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit

Als Sohn einer Jüdin 1923 in Hamburg geboren, hat sich Ralph Giordano in zahlreichen Publikationen mit der Frage von deutscher Schuld und Scham, mit Verdrängung und Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt. Die letzten Monate des Krieges verbrachte der vom Rassengesetz bedrohte „Halbjude“ in der Illegalität. Nach Kriegsende trat er in Hamburg der Kommunistischen Partei bei, die er ein Jahr nach deren Verbot 1957 wieder verließ. Unter anderem veröffentlichte Giordano „Die Partei hat immer recht“ (1961), „Die Bertinis“ (1982), „Die zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein“ (1987), „Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte“ (1989) und „Israel, um Himmels Willen, Israel“ (1991).

taz: In Ihrem Buch „Die Zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein“ schrieben Sie, die Deutschen hätten eine zweite Schuld auf sich geladen, die in der Verdrängung und Verleugnung der ersten Schuld, der Schuld an der nationalsozialistischen Terrorherrschaft, bestehe. Heute geht es in Deutschland zum zweiten Mal nach dem Krieg darum, Geschichte kollektiv aufzuarbeiten. Wo sind die Affinitäten, wo die Unterschiede im Problem, wie es sich nach 1945 stellte und wie es sich nach 1989 stellt?

Ralph Giordano: Zunächst: Ich bin ein Verfechter der absoluten Singularität des Nationalsozialismus. Trotzdem: Das, was heute in der früheren DDR an Verdrängung großen Stils im Gange ist, und zwar gerade von den Leuten auch, die der alten Bundesrepublik die Verdrängung der NS-Zeit vorgeworfen haben, ist für mich bestürzend. In der Mimik, Gestik, in den ganzen Verdrängungsartikulationen bieten viele, die für das stalinistische Regime der DDR verantwortlich sind, das gleiche Bild wie all diese reuelosen, ihre persönliche Haftbarkeit bestreitenden, innerlich tief barbarisierten Nazi-Täter. Es ist die öffentliche Selbstentsorgung der gestrigen DDR-Größen in unserer Gegenwart, die sie zur zeitgenössischen Entsprechung der Entnazifizierungskümmerlinge von damals verkommen läßt. Ich habe die größten Beklemmungen, wenn ich sehe, was sich in der früheren DDR heute tut. Ich denke an diejenigen, die jetzt mea culpa sagen müßten, es aber nicht tun.

Sie sprachen in Ihrem Buch über die zweite Schuld von einer Kollektivschuld, die nicht justitiabel sei. Gibt es auch eine Kollektivschuld der Bürger der DDR?

Für die meisten Menschen sowohl nach 1945 wie auch nach 1989 war bzw. ist die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht verbunden mit der Gefahr von Zuchthaus und Gefängnis, überhaupt mit Strafrechtsparagraphen. Es ist vielmehr eine Frage der persönlichen politischen Hygiene, der eigenen inneren Aufrichtigkeit, und zwar nicht nur im eigenen Interesse, um nicht seelisch und moralisch zu verkümmern, sondern auch im Interesse der Kinder und Kindeskinder. Denn so wie damals die für die Nazi-Zeit verantwortliche Generation ihren Kindern und Kindeskindern die historische politische Klarsicht verstellt hat, indem sie verdrängt hat, wird es auch diesmal sein, wenn die Masse der Mitläufer nicht in sich geht, sich fragt: Wie ist es mit diesem System gewesen? Was hat uns verstrickt? Das ist keine justitiable Sache, aber eine Frage, die sich Millionen stellen müssen.

Wo beginnt die schuldhafte Verstrickung, ein Verhalten also, das sich nicht mehr mit dem Zwang der Verhältnisse entschuldigen läßt?

Zunächst muß bedacht werden: Keiner hat den 9. November 1989 vorausgesehen. Die Menschen mußten sich also einrichten, einer Übermacht gegenüberzustehen, die ihr ganzes Leben und wahrscheinlich auch noch das ihrer Kinder bestimmen würde. Aber zu Ihrer Frage: Es ist im Einzelfall schwer zu sagen. Da muß auch jeder einzelne mit sich selber ausmachen, ob er sich einer Macht untergeordnet hat, die ungleich stärker war als er selbst oder von der er jedenfalls glaubte, sie sei unüberwindbar, und Taten begangen hat, die den Nachbarn, den Freund oder auch Mitglieder der eigenen Familie versehrt haben. Diese Grenze ist sehr schwer zu ziehen. In den meisten Fällen geht es hierbei um einen nicht justitiablen Sachverhalt. Das Strafrecht ist kein Ersatz für die individuelle und auch kollektive Aufarbeitung des Stalinismus.

Kommen wir zum justitiablen Teil. Das juristische Instrumentarium des Rechtsstaates scheint ja zu stumpf, wenn es um die strafrechtliche Verfolgung der Spitzen des DDR-Unrechtsregimes geht, aber durchaus scharf genug, um Mauerschützen für Jahre hinter Gitter zu bringen. Welchen Weg sehen Sie aus diesem Dilemma?

Ich sehe kaum einen Weg aus diesem Dilemma. Man hat ja viel Erfahrung, was geschieht, wenn eine Diktatur, ein Gewaltregime, durch eine Demokratie abgelöst wird. Die Täter kommen davon. Das gilt nicht nur für das Deutschland nach Hitler, es gilt — abgesehen von einigen Fällen der Selbstjustiz von Partisanen — auch für das Italien nach Mussolini, es gilt ganz und gar für Japan nach 1945, es gilt für Spanien nach Franco, es gilt für Portugal nach Salazar, es gilt für Argentinien, wo man ja einmal glaubte, daß der tödliche Kreis durchbrochen sei, es wird auch für die Sowjetunion oder das, was von ihr übriggeblieben ist, gelten, und ich denke, es wird auch für die DDR gelten. Die Täter kommen davon, wenn eine Diktatur durch eine Demokratie abgelöst wird. Es ist eine der fürchterlichsten Bilanzen dieses Jahrhunderts. Das hängt damit zusammen, daß der Rechtsstaat, wie es so schön heißt, immer dann hilflos ist, wenn der Staat der Verbrecher gewesen ist. Da kommt man mit dem Strafgesetzbuch nicht weiter. Das kommt in seinen Paragraphen eben nicht vor. Karl Jaspers hat das rückwirkende Recht, wie es das Nürnberger Statut zur Führung der Hauptkriegsverbrecherprozesse gesetzt hat, mit Auschwitz begründet. Auschwitz, so hat er gesagt, mit dem bürgerlichen Strafgesetzbuch anzugehen, hieße zu versuchen, einen Tiger mit einem Zahnstocher zu erledigen. Das Problem stellt sich in abgewandelter Form, in viel kleinerer Dimension, auch heute, wenn es um die DDR geht.

Müßte demnach auch in der DDR rückwirkendes Recht gesetzt werden?

Nein. Nulla poena sine lege — das ist Bestandteil des Rechtsstaates. Das macht eben aber auch seine Hilflosigkeit aus. Die Diktaturen unseres Jahrhunderts haben ja Verbrechensdimensionen in die Geschichte eingeführt, die sich das 19. Jahrhundert, dem diese Gesetzbücher entstammen, gar nicht vorstellen konnte. Den Vernichtungsapparat des Reichssicherheitshauptamtes, den Plan, vom Schreibtisch aus ein ganzes Volk zu ermorden, das haben die Paragraphen des bürgerlichen Strafgesetzbuches nicht vorgesehen. Deshalb das rückwirkende Recht der Nürnberger Justiz. In Sachen DDR handelt es sich aber um eine ganz andere Dimension. Es fehlt die Dimension Auschwitz. Das Dritte Reich hatte die Absicht, die ganze Welt zu unterwerfen, die kleine DDR sicher nicht. Wenn man hier vergleicht, läuft man Gefahr, den Nationalsozialismus zu relativieren. Anderseits ist diese Relativierung gerade eine Waffe der heutigen Verdränger: Die DDR sei nicht so schlimm gewesen wie das Dritte Reich. Das stimmt natürlich. Aber ein scheußliches System wie das des real existierenden Sozialismus wird nicht weniger scheußlich dadurch, daß es ein noch scheußlicheres gab. Doch auch das, was der real existierende Sozialismus gemacht hat, dieser Überwachungsstaat, diese Stasi-Krake, auch das bietet offensichtlich dem Rechtsstaat Schwierigkeiten. Aber für die DDR muß es genügen, das geltende Recht anzuwenden. Das heißt aber auch: Die Kleinen werden angeklagt, und die Großen werden wahrscheinlich davonkommen.

Sie sind demnach dagegen, daß Honecker, unter den Nazis Zuchthaushäftling, heute alt und krank, einen ruhigen Lebensabend in Pjöngjang oder Santiago verbringt?

Mit der vollen Legitimation eines Überlebenden des Holocaust antworte ich: Es war besonders verwerflich, wenn ein ehemaliger NS- Verfolgter sich in einen stalinistischen Verfolger verwandelte. Es gibt für mich keinen KZ-Bonus, oder in diesem Fall Zuchthausbonus, der mit praktiziertem Stalinismus zu verrechnen wäre. Wenn Erich Honecker nicht bestraft wird, kann und darf in der DDR niemand, der in der Staatshierarchie unter ihm stand, bestraft werden.

Interview: Thomas Schmid