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Algerien — ein gespaltenes Land

Hunderttausende demonstrierten in Algier nach einem Aufruf der „Front der Sozialistischen Kräfte“ (FSS) gegen die „totalitäre Versuchung der Islamisten“/ Der FSS-Chef Ait Ahmed faßt politisch wieder Fuß/ Furcht vor einem Eingreifen der Armee  ■ Von Oliver Fahrni

Algier (taz) — Nie war Algerien so gespalten wie heute. Vor einer Woche gab eine starke Mehrheit der Algerier im ersten Wahlgang der Islamischen Heilsfront (FIS) ihre Stimme. Sie haben ihre Hoffnungen in ein okzidentales Entwicklungsmodell verloren und suchen mit den Islamisten einen eigenen, algerischen Weg.

Vorgestern war das andere Drittel der Gesellschaft auf der Straße. Hocine Ait Ahmed und seine sozialdemokratische Front der Sozialistischen Kräfte (FFS) hatten zu einem „Marsch für die Demokratie“, gegen die „totalitäre Versuchung der Islamisten“ gerufen. Hunderttausende kamen. Eine unüberschaubare Menschenmenge zog durch die Innenstadt Algiers. Wettergegerbte Bauern, jeansbehoste Studentinnen, glattgebürstete Beamte, raitanzende Kids, hidjabbewehrte Frauen, lederjackentragende Intellektuelle. Kurzum: Kabylen plus Bildungsbürgertum. Viele Frauen. Sie fürchten, daß sie der moralische Rigorismus der Islamisten in den Haushalt zurückdrängen, ihre individuellen Freiheiten beschneiden könnte. Aber da ist, algerisches Paradox, auch die linke Journalistin L., die in dieser Demo ihre kulturelle Heimat hat, aber auch im zweiten Wahlgang FIS wählen wird. Hoch über der vorbeiziehenden Menge beugt sich Ait Ahmed über das Balkongeländer eines Hotels, schwenkt einen langen, roten Schal. „Heute ist der Tag der Demokratie. Ein Neubeginn“, ruft er in die Menge, und sie antwortet „Demokratie, Demokratie“, „Algerien ist nicht der Iran“ und „Gutes Neues Jahr für die Demokratie“.

Es ist die eigentliche Rückkehr Ait Ahmeds. Der 65jährige hagere Mann ist einer der neun Gründungsväter der algerischen Revolution, die an Allerheiligen 1954 den Aufstand gegen die Franzosen losgetreten hatten. Bei der Unabhängigkeit ging Ait Ahmed in die kabylischen Berge und kämpfte gegen Ben Bella, wurde zum Tode verurteilt, wartete 23 lange Jahre im schweizerischen Exil. Als sein Flugzeug im Dezember 1989 in Algier landete, war er politisch desorientiert. Seine FFS boykottierte, im Juni 1990, die ersten freien Lokalwahlen — ein schwerer politischer Fehler. Ein paar Monate später begleitete ich ihn in die kabylischen Berge. Zu seinen Meetings auf historischem Grund kamen kaum 3.000 Menschen. Tastend suchte Ait Ahmed nach einem Programm.

Aber anders als Ben Bella nahm Ait Ahmed mit der algerischen Realität Fühlung. Die Wäher lohnten's ihm mit 600.000 Stimmen im ersten Wahlgang (Vergleich FIS: 3 Millionen). Die große Demonstration vom Donnerstag war Ait Ahmeds Comeback — fürderhin sammelt er alle Kräfte, die sich weder in der FLN noch in der Islamischen Heilsfront erkennen. Kann sein, daß er im zweiten Wahlgang viele Abstentionisten mobilisiert. Aber am FIS-Wahlsieg, das erkennt er klarsichtig, wird auch die Demo nichts ändern. Dennoch will er in den zweiten Wahlgang gehen und dann sehen. Ait Ahmed möchte ein Eingreifen der Armee verhindern, weil der Militärputsch Algerien „zur Bananenrepublik“ machen würde.

Gerade die differenzierte Haltung des FFS-Chefs machte die große Manifestation auch zu einem politischen Begräbnis der anderen „demokratischen“ Parteien. Allen voran Said Saadis und seiner Kabylenpartei RCD. „C“ steht für Kultur, „D“ für Demokratie. Nach seinem Wahlfiasko im ersten Gang gab der 44jährige Psychiater aus Tizi-Ouzou eine erhellende Lektion in Sachen Demokratie: Die Wahlen seien sofort abzubrechen, rief der Durchgefallene, der zweite Wahlgang vom 16. Januar zu verhindern, „notfalls mit Gewalt“. Bei seinem „Djihad für die Demokratie“ (ein algerischer Journalist) hat sich Saadi mit so ausgewiesenen Demokraten zusammengetan wie Kasdi Merbah, dem früheren Chef der Folterpolizei „Sécurité militaire“.

Die Bürgerkriegsdrohgebärden der algerischen „Demokraten“ sollen ein Eingreifen der Armee provozieren. Die Generäle sind geneigt, den ersten Anlaß zum Putsch zu nutzen. In Béchar (Südalgerien) und in Télergma (Osten) haben sie zwei Divisionen, 15.000 Mann, für den inneren Einsatz gedrillt. Und liefern die Islamisten keinen Vorwand, bedient sich die Armee selber: Am Wochenende flog sie drei Flugzeugladungen bärtiger Provokateure nach Algier, die als falsche Islamisten jederzeit für eine eskalierende Schießerei oder einen aufgedeckten Komplott gut sind.

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