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Münchhausens Erbe

■ Eine Timm Ulrichs-Retrospektive in Recklinghausen

Ein schwer bewaffneter Cowboy sucht sein Opfer. Eine Assistentin in glitzernd-rotem Badeanzug steht ihm bei. Das Opfer stellt sich bereitwillig mit dem Rücken zur Bretterwand, auf der in großen Lettern geschrieben steht: AMERICAN WESTERN SHOW. Schon fliegen die Messer, begleitet vom Surren der Kameras. Applaus. Wir befinden uns in der Kunsthalle Recklinghausen, wo zu Ehren des Opfers eine Retrospektive ausgerichtet wurde.

Nicht zum ersten Mal und vermutlich auch nicht zum letzten Mal setzte das Opfer sein Leben aufs Spiel. Der selbsternannte Totalkünstler Timm Ulrichs liebt die spektakulären Endzeitspiele. Eine tätowierte Scheibe direkt über dem Herzen weist ihn seit 1974 als lebendige Zielscheibe aus. 1979 lief er, nur mit einem Metallstab „bekleidet“, bei Gewitter über ein Feld, Kunstobjekt und „menschlicher Blitzableiter“ in einem. 1981 harrte er zehn Stunden in einem Findling aus, aus dessen Innerem das EGOGENIE (Schwitters-Freunde lesen dieses Wort bitte von rechts nach links) sein Körpervolumen herausmeißeln ließ.

Revolten gegen den Kunstbetrieb, die der heute 51jährige aus den Sechzigern in die Neunziger rettet? Das wäre zu simpel gefragt, der Münchhausen der Kunst allzu leicht überführt. Immerhin füllen die Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen des Konzept- und Aktionskünstlers Seiten, der Kunstbetrieb dankt's und überschüttet den Schwitters-Erben mit Preisen. Aber was soll eine Messershow in Westernmanier inmitten von ungleich ernsthafteren und „endgültigeren“ Kunstattacken, die den BesucherInnen in Recklinghausen präsentiert werden?

In einer Zeit, in der die Suche nach (Welt-)Bildern — so Ulrichs — zur „weltweiten Fotosafari“ zu verkommen droht, in der das Auge der Kamera die Natur „erschießt, erlegt und erledigt“, setzt Ulrichs zum Gegenangriff an. Resultat: Das erschossene Bild. Er zielt auf die Kamera, die ihr/sein letztes Bild schießt, er legt Feuer, das eine laufende Kamera mitsamt der „tödlichen“ Konsequenz, der Zerstörung dieser Apparatur zur Produktion von Bilderfluten durch das Feuer, dokumentiert. Das ist konsequente Umkehrung falsch verstandener Naturbeherrschung mit den Mitteln der Kunst, die auch vor der eigenen (gern inszenierten) Person nicht haltmacht.

„Du sollst dir kein Bildnis machen noch irgendein Gleichnis — und auch kein Foto“, warnt es aus dem Munde des bildenden Künstlers, der sich als Professsor der Kunstakademie Münster den Grundstock seines Lebensverdienstes sichert, indem er andere zur Bilderproduktion anleitet. Ist die AMERICAN WESTERN SHOW ein Zeichen von Selbstironie anläßlich der Institution Retrospektive, die dem Werk Ulrichs einen merkwürdig feierlichen Rahmen verleiht?

„Ein Münchhausen, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht“ (Interview mit Timm Ulrichs in der taz vom 11. April 1988), kann schließlich nicht ständig „todernst“ sein. Will er seiner Berufung gerecht werden, ist er zu allerlei Schabernack verpflichtet. Vor gut 30 Jahren wurde Ulrichs für solchen Un-Sinn noch bestraft. Der Technischen Hochschule Hannover verwiesen und mit Hausverbot belegt wurde der damalige Architekturstudent, weil er ein urdeutsches Verbot ad absurdum führte. Er klebte eifrig Zettel an die Wände, Aufdruck: „Zettel ankleben verboten!“ Als Ulrichs per Annonce seine Vermählung mit Anna Blume bekanntgab, rächte sich diese schon nicht mehr an dem Heiratsschwindler. Sie war und ist ja nur eine Kunstfigur Kurt Schwitters', ebenso von links nach rechts zu lesen wie ihr Gemahl in spe, das EGOGENIE.

Und heute? Ulrichs scheint sich alles leisten zu können und auf niemandes Hilfe angewiesen zu sein. Die Werkretrospektive in Recklinghausen wurde gleich mehrfach angekündigt, zum ersten Mal anläßlich des 50. Geburtstags des Künstlers. Doch als sei eine solche Ehrung zu Lebzeiten nicht genug, ließ Ulrichs Ausstellungsmacher und Verleger zappeln. Noch am Tag der Eröffnung wurden die letzen Objekte installiert, für Bildlegenden blieb nur in seltenen Fällen Zeit. Die für Mai angekündigte Publikation Timm Ulrichs · Die Quadratur des Kreises von Andreas Bee konnte selbst zur Ausstellungseröffnung am 15. Dezember nicht geliefert werden, da Ulrichs das Bildmaterial nicht rechtzeitig an den Verlag sandte. Das Opfer lächelt und gibt bereitwillig Interviews — inmitten der Messer, die sein Porträt zeichnen. Susanne Hagemann

Die Ausstellung ist noch bis zum 2.Februar 1992 in der Kunsthalle Recklinghausen zu sehen.

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