: Hoher Rechtsextremismus bei Erwachsenen
■ Erste repräsentative Studie zum Rechtsextremismus in Berlin: Über 65jährige sind viel rechtsextremer als Jugendliche/ Rechtes Einstellungspotential ist im Ostteil der Stadt doppelt so hoch wie im Westen
Berlin. Nicht die Berliner Jugendlichen sind auffallend rechts eingestellt, sondern die Erwachsenen: Während in Ost-Berlin 11, in West- Berlin 5 Prozent aller Jugendlichen unter 24 Jahren ein extrem rechtes Einstellungspotential aufweisen, sind es 25 Prozent der über 65jährigen in West- sowie 38 Prozent in Ost- Berlin. Mit steigendem Alter nimmt der Rechtsextremismus immer mehr zu. Zu diesem Ergebnis kommt die erste repräsentative Studie zum Rechtsextremismus in West- und Ost-Berlin, die der Politologe Richard Stöss von der Freien Universität gestern auf einer Fachtagung im DGB-Haus vorstellte.
Das extrem rechte Einstellungspotential ist in Ost-Berlin mit 17 Prozent doppelt so hoch wie im Westteil, ergab die Studie. Als wesentliche Merkmale von Rechtsextremismus fragten die Forscher nach Entfremdung, Nationalismus, Ethnozentrismus und Autoritarismus. In Ost-Berlin war das Autoritarismuspotential mit 40 Prozent knapp zweieinhalbmal so hoch wie im Westen; das Entfremdungspotential dreimal so hoch. Der Ostberliner Rechtsextremismus »ist durch die autoritären Strukturen des stalinistischen Regimes und die allgemeine Orientierungslosigkeit durch den gesellschaftlichen Umbruch geprägt«, so Stöss.
Eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung von Rechtsextremismus sei Angst und Unsicherheit. Es müsse unterschieden werden zwischen Rassisten und Wohlstandschauvinisten: Erstere sprächen anderen Völkern ihr Lebensrecht ab, weil sie minderwertige Wesen seien; letztere empfänden Ausländer als Bedrohung im eigenen Land, weil sie von ihrem Wohlstand nichts abgeben wollten. Wohlstandschauvinismus sei bei vielen vermutlich durch Diskussionen aufzulösen. »Das ist bei der Suche nach Gegenstrategien besonders wichtig«, so Stöss.
Ferner fanden die Forscher organisatorische Unterschiede in Ost und West heraus: Während Rechtsextreme in den alten Ländern weitgehend organisiert sind, bilden sie in der Ex-DDR eher eine subkulturelle Bewegung in Jugendgruppen, bei Skinheads, Hooligans und Jungfaschos. Auch die Bereitschaft, eine rechtsextreme Partei zu wählen, ist im Westteil etwa siebenmal höher als im Ostteil. Rechte Parteien in der Ex- DDR hätten ebenfalls bisher lediglich marginale politische Bedeutung erreicht, erläuterte Michael Jänicke vom Forschungsprojekt Rechtsextremismus.
Einen Grund zur Entwarnung liefert die Studie dennoch nicht. Laut Polizeistatistik nehmen rechtsextrem motivierte Straftaten in Berlin weiter zu. In Ost-Berlin seien die Überfälle häufiger und auch brutaler, so Jänicke. Gegenstrategien sind gefragt. Über die zerbrachen sich gestern 200 Leute aus den unterschiedlichsten Bereichen im DGB-Haus die Köpfe. Sascha Wenzel von der Regionalen Arbeitsstelle für Ausländerfragen in Ost-Berlin berichtete aus seinen Erfahrungen mit Jugendgruppen. Viele Jugendliche gäben an erster Stelle die Suche nach Schutz und Geborgenheit in der Gruppe an, erst an dritter oder vierter Stelle werde die politische Motivation genannt. »Wir müssen die große Masse derer, die Gewalt tolerieren, dazu bringen, die Strukturen in der Gruppe zu verändern und auf die wenigen Gewaltbereiten einzuwirken. Aber erst einmal muß man die Gruppe an sich akzeptieren«, so Wenzel. Gerade in der DDR seien die Jugendlichen gewöhnt gewesen, nur in der Gruppe etwas wert zu sein.
Christine Holzkamp, Psychologie-Professorin an der TU, forderte, nicht ständig von sozial benachteiligten Jugendlichen auszugehen. Rechtsextremismus sei eine »Erscheinungsform der Dominanzkultur der weißen Deutschen«. »Wir können nicht darüber reden, ohne uns selbst zu meinen. Wir alle haben das Bewußtsein der Höherwertigkeit mit der Muttermilch aufgesogen. Damit müssen wir uns auseinandersetzen.«
Auch Peter Finger von der Antirassismus-Initiative forderte, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Rassismus und soziale Ungleichheit fördern, zu verändern. Auch sämtliche von der Regierung initiierten Programme zur Jugendarbeit hätten lediglich eine Alibifunktion. Jeannette Goddar
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