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„Irland, Schlachtfeld aller menschlichen Kräfte“

■ Zwei irische Dichter über die Geschichte ihrer Insel, den Traum von Europa, den Krieg, Mars-Riegel, den Tourismus und die Sünden des britischen Empire

taz: Wir leben hier mitten in Europa. Das galt die letzten Jahrzehnte als relativ friedlich. Doch da ist immer noch der Bürgerkrieg in Nordirland. Hört er nie auf?

John Montague: Im 16. Jahrhundert wurde England protestantisch. Seither gibt es diesen Krieg. England ist immer noch im Krieg mit einem älteren Teil seiner selbst, dem mittelalterlichen, dem katholischen. Hier findet der älteste Kolonialkrieg der Welt statt. Das Empire begann in Irland, und meine Leute kämpften als einzige dagegen.

Aber die Zeiten religiöser und kolonialer Kriege ist doch vorbei?

Montague: Das ist zu einfach gedacht. Wenn man sich in Europa umschaut, kommt doch überall das Alte hoch, melden sich kleine Völker und Nationen zu Wort. Diese Dinge sterben nie aus. Solange Ulster-Protestanten und Katholiken das nicht untereinander regeln, wird der Separatismus weitergehen.

Hugo Hamilton: Ob in Irland oder in Jugoslawien, die Leute haben keine Ahnung, was politische Souveränität eigentlich bedeutet. Nämlich nichts. Man setzt politische Souveränität mit ökonomischer gleich. Jetzt sind wir Teil Europas...

Montague: Wir wären es gern! Die Iren glauben, daß sie mehr davon profitieren als alle anderen, daß all unser Übel durch Europa gelöst würde, indem wir Teil dieses größeren Ganzen werden.

Hamilton: Heute kann man doch in Belfast und in Moskau Mars-Riegel kaufen. Was will man mehr? Europa wird von Belfast bis Moskau gleich sein.

Montague: Nein, Noch blickt man von Belfast bis Beirut! Der Norden Irlands ist das letzte Problem des britischen Empire. Das Auseinanderfallen des britischen Empire begann 1916 [Gründung der IRA, d. Red.] Damals wurde der erste Mauerstein aus dieser großen roten Wand genommen. Wir waren das. Wir können so weit zurückgehen, wie wir wollen, und es bleibt doch immer das gleiche Problem.

Was könnte Europa denn tun?

Hamilton: Separatismus ist doch vollkommen irrelevant geworden in Europa. Jeder hört doch U2, wir essen Mars-Riegel...

Montague: Ich höre Sinnead O'Connor!

Hamilton: Wir gehören wie gesagt zu einer weltweiten Kultur...

Montague: ... das globale Gewissen wächst. Und wir halten uns an unserem uralten Atavismus fest.

Aber es ist doch ein Trugschluß zu glauben, nach 1992 seien wir alle in Europa gleich!

Hamilton: Nein, das meine ich auch nicht. Unsere Identitäten sind andere, aber wir tragen zu dem einen „Volk“ bei.

Montague: Ich glaube, wir beide sind Sozialisten. [Hamilton lacht] Sozialismus kann nicht sterben, genau wie das Christentum. Er wird eine neue Form annehmen und dann wiederauferstehen als Revolte.

Hamilton: Demokratie wird sehr bald ein schmutziges Wort werden. Weil es zu oft von Leuten wie Margaret Thatcher und George Bush benutzt wurde.

Montague: Irland ist auf der Schwelle zu Europa. Es war noch nie Teil von ihm. Unser großer Nachbar hat das verhindert, und wir sind froh, daß wir nun über ihn drüberspringen können. Auf lange Sicht werden die Iren England verändern. Wir sind dort zwei Millionen. Die Iren werden den europäischen Geist und das Gewissen zum großen Nachbarn bringen. Wir brauchen Europa.

Braucht Europa die Iren?

Montague: Der heftige Regen segnete und beschützte uns bisher, er vertrieb die meisten Fremden wieder. Übrigens, die Deutschen mögen wir nicht.

Warum?

Sie sind so kraß, kommen mit ihrem eigenen Käse, ihrem eigenen Wein. Und kaufen ganze Inseln für ihre Nudisten-Kolonien.

Wer kommt denn außer den Deutschen?

Montague: Die Niederländer, und jetzt die Italiener. Sie sind die gefährlichsten. Sie mögen den Regen, weil sie genug Sonne haben.

Hamilton: Irland sollte das Urlaubscamp für ganz Europa werden. Die Industrie müßte umgesiedelt werden, und die Leute könnten sich hier amüsieren.

Montague: Ja, trinken, Musik, die alte traditionelle Musik hören. Es gibt auch sehr guten Punkrock.

Verlassen nicht immer noch viele Iren ihr Land?

Montague: Es ist eine Insel! Die muß man doch verlassen!

Was wäre denn, wenn, wie in Europa üblich, etwa Pakistani nach Irland kämen, um dort zu arbeiten?

Montague: Wir wollen die nicht.

Was ist das? Nationalismus, Rassismus?

Montague: Wir haben damit folgendes Problem: Wir würden zur britischen Hintertür werden. Aber die Briten verdienen all die Inder, die Pakistani, die Nigerianer, weil sie dieses verdammte Empire gegründet haben. Also soll alles auch vor ihrer Haustür landen! Ich hoffe, daß der Durchschnittsengländer der nächsten Generation „braun“ aussehen wird, als Strafe für all das, was die Briten den anderen angetan haben.

Hamilton: Wir haben keine Erfahrung mit Multikultur gemacht. Eigentlich ist auch der Krieg in Nordirland ein rassistischer.

Wer verhält sich rassistisch?

Hamilton: Die Iren können einfach den Unterschied, das andere, nicht neben sich ertragen. Es gibt die eine Verhaltensart, und jeder, der davon abweicht, ist ein Idiot. In Europa werden in vielleicht 20 oder 50 Jahren alle möglichen Leute nebeneinander und miteinander leben. Wir werden damit fertigwerden. Ich hoffe auch, daß die Deutschen damit richtig umgehen. Wir müssen miteinander leben.

Aber müssen die Iren nicht erst lernen, sich selbst zu akzeptieren?

Hamilton: Die Leute machen sich eine falsche Vorstellung vom Nationalismus. Er wird am Ende zum Rassenkrieg. Man versucht, andere draußen zu halten. In diesem Sinn ist der Nationalismus in Irland das gleiche wie der Haß der Deutschen gegen Asylsuchende und Ausländer. Wenn es um Arbeit geht, sollte man behandelt werden wie jeder andere auch, egal, welcher Hautfarbe oder Herkunft man ist.

Das sind die Prinzipien der zivilen Gesellschaft.

Hamilton: Diese Prinzipien erodieren in Nordirland. Die Menschen geraten in einen Belagerungszustand. Sie kämpfen den falschen Krieg. Ich glaube an so etwas wie Gleichheit und Gerechtigkeit. Separatismus, und den vertritt die IRA in Nordirland, hilft der Gleichheit generell nicht weiter. Die britische Politik in Nordirland ist in keinster Weise lobenswert. Aber die IRA wurde Teil des Problems, ja, sie ist mittlerweile das Problem. Weil sie für die falschen Prinzipien kämpft. Ich glaube, ihre Idee des bewaffneten Kampfes für ein vereintes Irland ist im Kontext von Europa Unsinn.

Es gab einen historischen Moment, wo der Versuch, die Briten aus Nordirland rauszubekommen, legitim war. Heute ist er irrelevant. Alles, was wir wollen, sind Mars, BMWs und Videorecorder. Wenn ich nach Nordirland fahre, ist das dort auch nicht anders. Sie haben dort Spielautomaten in einigen Kneipen, das ist ein Unterschied.

Montague: Ja, auch Automaten für Kondome.

Hamilton: In Südirland haben wir auch diskriminierende Gesetze, etwa das Scheidungs- und Abtreibungssrecht, Zensurgesetze.

Was tun Sie in einem solchen Land als Dichter?

Montague: All die menschlichen Fragen, hier auf unserer kleinen Insel liegen sie vor uns: Fragen über den imperialen Religionskrieg, den ökonomischen Krieg, alles verdichtet sich auf kleinstem Raum, auch in gewisser Weise die Frage des Rassismus. Wir sind das Schlachtfeld für all diese Kräfte. Das bedingt eine gute Literatur — und gute Musik. Der Autor muß nur einen klaren Kopf behalten.

Hamilton: Genau. Der Schriftsteller ändert nichts.

Montague: Natürlich ändert er das Denken der Menschen, aber langsam! Es ist der Schrei der Seele, wenn sie in das Bewußtsein dringt! Würden die Ulster-Protestanten meine Gedichte lesen, wüßten sie das! Aber sie lesen ja keine Gedichte! Interview: Seibel/Sotscheck

John Montague (geb.: 1929) lebt in Cork. Zahlreiche Gedichtbände, zuletzt New Selected Poems (1989), Kurzgeschichten: Death of a Chieftain (1964, dt. 1968) und der Roman The Lost Notebook (1988, deutsche Übersetzung in Vorbereitung)

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