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SCHREIENDE GERÜSTE Von Philippe André

Wohnraum gab es in Berlin noch nie im Übermaß. Nun ist jedoch ein Zustand erreicht, der wirklich jeder Beschreibung spottet. Persönlich kenne ich eigentlich niemanden mehr, der keine Wohnung sucht. Allerdings ist mir auch noch keiner untergekommen, der etwa schon eine gefunden hätte, die erschwinglich und bewohnbar wäre.

In diesem Licht betrachtet, wirkt die neue Fassadenrenovierungs- und Dachboden-Ausbauwut Berliner Hausbesitzer zunächst ganz angenehm. Daß sie dafür ordentlich Knete vom Senat bekommen, dürfte ebenso klar sein wie die Aussicht auf pralle Mietsäckel nach Fertigstellung des zusätzlichen Wohnraums. Das ist ungerecht, sicher, schlimmer ist jedoch, daß der vom Verkehrslärmpegel ohnehin bis an die Grenzen menschlicher Leidensfähigkeit terrorisierte Berliner von jener privaten Bauwut regelrecht überfallen, ja nachgerade heimgesucht wurde.

Uns ereilte die Überraschung an einem Samstag Morgen. Irgendetwas hatte uns unruhige Träume beschert und sie dann abrupt beendet. „Was iss loss“, fuhr ich kerzengerade aus dem Tiefschlaf, als ein weiterer gellender Schrei direkt vor meinem Fenster im Hochparterre mich wie ein Fausthieb sogleich wieder in die ursprüngliche Lage zurückwarf. „Mein Gott“, sabberte ich, bis ins Mark erschrocken, und rief sofort nach meiner Gattin. Meinen verzweifelten, gleichwohl fragenden Blick ignorierte sie, warf mir jedoch die alte Pilotenmütze mit den wattierten Ohren zu. Sie selbst schützte sich bereits mit einem türkischen T-Shirt, das sie sich nach Hausfrauenart um Stirn und Ohren gebunden hatte. Sieht gut aus, dachte ich noch, als... Wieder dieser Schrei; dann gebrüllte Worte, Sätze, Absätze, Romane, „ja hört denn dieses Arschloch gar nicht mehr auf“, rief ich. Jäh stinksauer geworden, sprang ich aus meinem Lieblingsdomizil, hechtete ans Fenster und riß mit einem Ruck die Gardine zur Seite. Ich wollte nicht glauben, was zu sehen meine Augen mich unbarmherzig zwangen. Auf einem über nacht errichteten Gerüst stand — direkt vor mir — Munchs endloser Schrei. Eine lächerlich dünne Glasscheibe nur trennte mich von dem grausigen Brüllaffen, der sich allmählich in eine Art hünenhaften Vorarbeiter verwandelte. Tollkühn öffnete ich dennoch das Fenster und bat barsch um Ruhe. Ohne Erfolg. Das heißt, am folgenden Montag begannen sie noch etwas früher. Das war das Zeichen. Mit Sack und Pack zogen wir auf die andere Seite der Wohnung und besetzten das Kinderzimmer. Doch Dienstag gegen sechs weckten uns wahre Schreikrämpfe. Ein Blick nach draußen verschaffte uns Gewißheit. Der Hinterhof bestand quasi nur noch aus Gerüsten. Außerdem wurde nun zusätzlich aus allen Rohren gebohrt und gehämmert. Nachts kauern wir jetzt immer im fensterlosen hinteren Teil unseres „Berliner Zimmers“ und hoffen, daß die wilden Tiere eines Tages weiterziehen. Nur gut, daß die Umbauarbeiten in der taz angeblich noch in diesem Jahrzehnt abgeschlossen sein sollen.

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