: Neue Sachlichkeit an der Ruhr
Das „Aufeinandertreffen von Religionen“ zwischen Dortmund und Schalke 04 endete 2:0 für den BVB ■ Aus Dortmund Chr. Biermann
Sogar Dr. Gerd Niebaum, der Präsident von Borussia Dortmund, war vor dem Revierderby seltsam euphorisiert. Sonst ein Mahnmal der Gelassenheit, sprach er im Hinblick auf den bevorstehenden Kick von einem Spiel, daß in „Europa einzigartig ist“. Damit unterschlug er nicht nur die noch heftigeren Lokalrivalitäten zwischen Rangers und Celtic in Glasgow, Benfica und Sporting in Lissabon oder zwischen Inter und Milan in Mailand, sondern zeigte sich seltsam beeindruckt von der allgemeinen Aufregung um das Spiel zwischen dem BVB und Schalke 04. Der Neu- Ruhrgebietler Ottmar Hitzfeld konstatierte erstaunt, daß „hier einige Leute es für wichtiger halten, Schalke zu schlagen als Deutscher Meister zu werden“. War doch vorher behauptet worden, daß Religionen aufeinandertreffen sollten.
Den Unterschied zwischen diesen Religionen zu markieren, dürfte aber schwerfallen, denn eigentlich ist die Rivalität eher eine Folge von Ähnlichkeit als von Unterschiedlichkeit. Die Mischung aus Kohle, Stahl, Loyalität, Tradition, Gefühlsdusel und weitem Einzugsgebiet gilt nämlich für beide Klubs. Borussia Dortmund ist es allerdings in den letzten Jahren gelungen, einen Vorsprung an Modernisierung dieser Strukturen herausarbeiten.
Während in Schalke noch Wahn und Würstchenbude angesagt waren, der Verein zwischen Bundesliga und Zweiter Liga umherirrte und regelmäßig Vermögen verpraßt wurden, zog in Dortmund schon mittelständisches Erfolgskalkül ein. Als man sah, daß der alte Ruhrgebiets-Prollklub nicht mehr funktionierte, wurde unter strenger Beachtung des schwarz-gelben Gefühlshaushaltes nüchtern kalkuliert und eine Art „Erlebnis Borussia“ kreiert.
Teil der Vereinspolitik ist es, die Spieler möglichst lange zu halten, um die Identifikation der Zuschauer zu stärken. Auch ein Grund für das durchgehend große Zuschauerinteresse. Die vergleichsweise große Zahl von Frauen im Stadion ist ebenfalls das Resultat eines teilweise nur instinktiv umgestalteten Fußballs, der auf die Bedürfnisse der neuen freizeitorientierten Mittelklasse zugeschnitten ist. Eine zuschauerfreundliche Volksoper in einem der besten Stadien des Landes, die hinter den Kulissen vergleichsweise solide funktioniert. Und trotzdem ist es kein Plastikfußball aus der Retorte geworden, wie ihn voreilige Denker wie dereinst Dr. Peter Krohn und heutzutage der notorische Uli Hoeneß immer wieder postulieren. In Dortmund ist ein Geniestreich gelungen, dessen Dimension den Beteiligten vielleicht erst dann klar wird, wenn der BVB am Saisonende wirklich Deutscher Meister ist.
Nun scheint Schalke 04 in der neuen Ära Eichberg, Netzer, Ristic auf einem ähnlichen Weg zu sein. Die Mehrjahrespläne von der Stabilisierung in der Bundesliga bis zur Meisterschaft liegen nicht nur in der Schublade, sondern werden erstaunlich zielstrebig angegangen. Und damit dürften sich die Unterschiede zwischen den beiden Ruhrrivalen wieder verwischen.
Da fällt es auch den Fans schwer, sich zu distanzieren. Die Dortmunder versuchten die Degradierung per Sprechchor. „Arbeitslos und eine Flasche Bier, das ist S04, die Scheiße vom Revier!“ Mit diesen Adrenalinausschüttungen vor dem Spiel hatten sich die meisten Beteiligten aber schon verausgabt. Sie schienen fast routiniert und nicht so tiefgreifend emotionsgeladen wie früher.
„Könnt ihr euch erinnern? Könnt ihr euch erinnern? 5:2! 5:2!“ So hatten die 8.000 Schalke-Fans schon eine Stunde vor Spielbeginn die Gastgeber zum zehnten Mal auf das Hinspielergebnis hingewiesen, wagten wiederholt die Behauptung, daß der BVB nie Deutscher Meister würde. Aber langsam mußten sich beide Seiten eingestehen, daß das Ereignis ihrem Vorhaß gar nicht mehr ganz gerecht werden konnte.
Die Spieler, die noch mit versteinerten Minen den Platz betreten hatten, retteten sich auf einfache Weise. Sie spielten schlichtweg guten Fußball. Den eindeutig besseren spielte aber Borussia Dortmund. Das sah auch ein ausgesprochen aufgeräumter Aleksander Ristic so. „Wenn solche Sachen nicht passieren, gewinnt Schalke immer mehr und mehr. Wo soll das denn hinführen.“ Er meinte damit den Fehler seines Torwarts Jens Lehmann, der zum 1:0 geführt hatte. Zufrieden mit seiner Mannschaft, mäßig unglücklich über die Niederlage gegen einen besseren Gastgeber, peilte er direkt das nächste Spiel an: „Ich habe die ganze Saison immer in Tabelle nach unten geguckt.“ Sein Gegenüber blieb angesichts der Tabellenführung nichts anderes übrig, als das gleiche zu tun. Auch er summierte eher nüchtern. „Wir sind im Fahrplan!“ Und meinte den Meistertitel. Und längst waren auch bei Dr. Niebaum die Gefühlsverwirrungen verschwunden. Die neue Sachlichkeit an der Ruhr hatte sich sogar an diesem Nachmittag durchgesetzt.
Schalke: Lehmann - Güttler - Eigenrauch, Mademann (60. Schlipper) - Luginger, Borodjuk, Freund, Anderbrügge, Flad - Sendscheid, Christensen (57. Michajlowic)
Zuschauer: 52.000
Tore: 1:0 Chapuisat (28.), 2:0 Reinhardt (74.)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen