GASTKOMMENTAR: Der Kultur-Kohl
■ Björn Engholm wird unterschätzt
Das Kichern unter den Konservativen der schreibenden Zunft war kaum überhörbar, als der frisch gekürte SPD-Chef auf dem Bremer Parteitag im Mai letzten Jahres die altsprachliche Floskel „vice versa“ nicht lateinisch beließ, sondern auch noch englisch intonieren mußte — „vais vörsa“! Dem traditionellen Basisdelegierten aus dem Kohlenpott, der weder des Lateinischen noch Englischen mächtig ist, mußte jene Sprechblase eher skandinavisch im Ohr klingen, das heißt typisch Björnsch, also prima! Freilich glich das Kichern auf der Journalistenbank einer revanchierenden Häme gegen den linken Spott auf Kohl. In der Tat scheint sich der ehrgeizige Newcomer aus Kiel mit seinem zur Schau gestellten Kulturimage auf ein Glatteis begeben zu haben, wo er für das politische Feuilleton ähnlich sturzgefährdet zu werden verspricht wie der populistische Kohl beim vergeblichen Dauerversuch an deutscher Hochsprache. Erwartet wird nur noch der Fehler, seines Eintreffens sicher, mit schenkelschlagender Konsequenz.
Zum Beispiel nannte der Kanzler vor Jahren in „Was nun, Herr Kohl?“ im ZDF Carl Zuckmayers „Der Kaufmann von Köpenick“ als sein Lieblingsstück. Björn Engholm konkurrierte vor kurzem auf Bios Schwatzsofa: eine originelle, eigens entworfene Todesanzeige aus alten Jusozeiten hervorhebend — als „Rudi Dutschke erschossen wurde“. Natürlich ist der Studentenführer nicht er-, sondern angeschossen worden, war Engholm zum Zeitpunkt des späteren Todes Dutschkes — 1979 — kein Juso mehr, verwechselte er wohl Rudi mit Benno Ohnesorg, der freilich ebensowenig ein „Studentenführer“ war wie Kohls Hauptmann von Köpenick mit Shakespeares Kaufmann von Venedig identisch sein konnte! So weit, so billig das Vergnügen!
Kohl und Engholm sind wahre Phänomene, die den Duktus ihrer Zeit in einer kaum zu erschütternden Selbstgewißheit beherrschen. Steht Kohl für ein modern-aggressives Spießertum, so repräsentiert Engholm — komplementär dazu — den kulturellen Otto-Katalog der postmodernen Freizeitgesellschaft. Die neue sozialdemokratische Lichtgestalt besitzt tatsächlich die einmalige politische Begabung, all das bis zum Erbrechen abgedroschene Kulturschranzenvokabular, die Vulgär-Habermasismen, Talkshow-Betroffenheiten und das Post-Gramscitum nicht nur rhetorisch wohlgefallen zu lassen, sondern politisch ernst zu meinen, praktisch anzupacken, ohne daß er die Bodenhaftung zur Basis verlieren könnte.
Bezeichnend für das sozialdemokratische Elend, daß in den eigenen Reihen über das Datum seines Scheiterns gefeilscht wird, während Konservative ihn als ernstzunehmenden Kohl-Konkurrenten wahrnehmen und fürchten. So schreibt Jürgen Busche in der 'Süddeutschen‘, Engholm könne es schaffen; er teile mit Kohl das Schicksal, unterschätzt zu werden: „Der Weg zur Kanzlerkandidatur bestätigt dies ebenso wie das linkische Auftreten des Mannes aus Lübeck, als es schließlich soweit war.“
Wer nunmehr Oskar Lafontaine gegen Björn Engholm auszuspielen versucht, wiederholt womöglich nur den alten Unionsstreit „Strauß versus Kohl“ auf sozialdemokratischem Terrain, will sagen: polarisierendes Machtpaket gegen integrative Eigentlichkeit. Wenn Kohl abwartend „aussaß“, wurde ihm stets Führungsschwäche bescheinigt. Geradezu ideologisch hält Engholm im Stile eines Talkmeisters dem gleichen Vorwurf sein dereguliertes Staats- und Politikverständnis entgegen. Antje Vollmer überschätzt die Möglichkeiten der Politik und die des weiß Gott kompakteren Oskar Lafontaine, wenn sie ihn zum Retter stilisiert, zur „letzten charismatischen Begabung“, der es zuzutrauen sei, „die abdriftende Gesellschaft noch einmal ernsthaft für die Politik zu interessieren“ (taz vom 22.1.1992).
Doch komme keine/r mit Machtinstinkt! Lafontaine verzagte mehrfach, wo es zuzugreifen galt; umgekehrt griff er zu, wo er — wie nach seinem Attentat — hätte verzagen können und müssen. Engholm hat immer zugegriffen, wenn es galt. Wenn er auf Bios Schwatzsofa erzählt, wie er mit seiner Frau die moderne Kunst aus Abreißkalendern entdeckte, sie abriß, teuer rahmte, darüber las, lernte und sie liebgewann —, dann mag das Feuilleton noch so feixen. Es kommt rüber, wie wenn Kohl von Opa und Oma erzählt. Ohne schwere Zeiten, aber dafür mit Kultur. Norbert Seitz
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