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Bitterfeld will nicht mehr Bitterfeld sein

■ Die BewohnerInnen wollen das Image des ökologischen Katastrophengebietes loswerden, doch die Muldeauen sind stärker vergiftet als bisher angenommen. Saniert wird nur dort, wo Geschäfte ...

Bitterfeld will nicht mehr Bitterfeld sein Die BewohnerInnen wollen das Image des ökologischen Katastrophengebietes loswerden, doch die Muldeauen sind stärker vergiftet als bisher angenommen. Saniert wird nur dort, wo Geschäfte gemacht werden können.

AUS WOLFEN BETTINA MARKMEYER

Eines wollen die Bitterfelder BürgerInnen auf gar keinen Fall mehr hören: daß sie in einem „ökologischen Katastrophengebiet“ zu Hause sind. Denn das wissen sie. Und die Befreiung, mit der Wende die Umweltverwüstung endlich beim Namen nennen zu können, ist längst der Befürchtung gewichen, das Image als ökologischer Schandfleck der Nation nie wieder loszuwerden. Schlechtes Image, das heißt: keine Investoren, keine Arbeit, keine Zukunft. Und deshalb beschwor Rolf Krause, Betriebsrat in der Wolfener Filmfabrik, auf dem Bürgerforum der Konferenz am Donnerstag abend WissenschaftlerInnen und Politiker inständig, die erste Bitterfelder Umweltkonferenz zu nutzen, um „das Horrorbild von dieser Region“ zu entzerren.

Neue Sachlichkeit ist angesagt in Bitterfeld und Wolfen. Sie war denn auch das Ziel der als umfassende Bestandsaufnahme vom Landratsamt veranstalteten ersten Bitterfelder Umweltkonferenz im Wolfener Kulturhaus. ExpertInnen aus Ost und West lieferten in 50 Vorträgen drei Tage lang Daten, Fakten und nochmals Daten über alles, was im Landkreis giftet, gammelt und gefährdet. Bundesumweltminister Klaus Töpfer und sein Anhalter Kollege Wolfgang Rauls waren herbeigeeilt, um die Region erneut der ministeriellen Unterstützung zu versichern. Rund 20 Millionen Mark sind inzwischen in die Analyse des verseuchten Landkreises investiert worden.

Im Silbersee bei Wolfen, der als das Giftloch von Bitterfeld weltweit Karriere machte, fanden die wissenschaftlichen SchatzsucherInnen jede Menge organische und anorganische Giftstoffe im Schlammpudding. Sie kamen aber zu dem überraschenden Ergebnis, daß jene keine akute Gefahr für die Bevölkerung darstellen: denn die Lignin-Schlämme, Abfallstoffe aus der ehemaligen Zellstoffproduktion der Filmfabrik, binden die Gifte weitgehend. Zwar muß die Grube unbedingt saniert werden, doch kann man in Ruhe planen. Wieviele Schadstoffe aus dem Silbersee, der wie alle Chemiekippen um Bitterfeld und Wolfen nicht nach unten abgedichtet ist, ins Grundwasser gehen, ließ sich nur schwer feststellen. Denn das Grundwasser ist bereits ohne die Gifte aus dem Silbersee stark belastet.

Die Verseuchung von Grund- und Oberflächenwasser und die hochgiftigen Hinterlassenschaften in den als Industriemüllkippen genutzten Restlöchern des Braunkohletagebaus sind die beiden größten Verbrechen der vormaligen Chemiekombinate. Wenn die Braunkohletagebaue aufgegeben werden und das Grundwasser wieder ansteigt, erreicht es die Kippensohlen und damit das Gift. 13 Kippen im Landkreis haben schon Grundwasserkontakt, acht enden nur knapp über der ersten Wasserschicht.

Was das bedeuten kann, zeigt die Verseuchung ausgerechnet der herrlichen Muldeauen mit Beta-HCH, die, so der Kreis-Umweltdezernent Eckstein, „eines unserer ganz großen Probleme ist“. Das Chemiekombinat leitete die Lindan-Abfälle ungeklärt über Abwassergräben in die Mulde. Der sich natürlich durch Auenwälder und Wiesen schlängelnde Fluß trat regelmäßig über die Ufer. Das Wasser floß wieder ab, das Gift blieb. Bis an die Muldemündung bei Dessau weisen nicht nur das Flußsediment, sondern auch Weiden, Wälder und Äcker so hohe Beta-HCH- Konzentrationen auf, daß Kühe dort nicht mehr weiden dürfen und das Getreide von den Äckern nicht gegessen werden kann. Für eine Schafherde bei Dessau besteht Schlachtverbot. Neben Beta-HCH sind die teilweise unter Naturschutz stehenden Muldeauen extrem hoch mit Arsen und Cadmium belastet.

Bedrückt denkt man im Landratsamt an „eine wissenschaftlich begleitete Landwirtschaft“ am Muldeufer: Kühe auf den Weiden, die nicht geschlachtet werden dürfen und Ackerbau, dessen Produkte nicht in den Handel gelangen dürfen. Den Lohn für die Landschaftspflege der Bauern muß dann der Staat zahlen. Die Muttermilch von Bitterfelder Frauen weist, wie auf der Konferenz berichtet wurde, bis zu viermal so hohe Beta-HCH Werte auf wie die von Müttern aus Westdeutschland.

Und was ist besser geworden in Bitterfeld? Die Luft vor allem, wenn die Autos nicht wären. Manch ein aus den typischen gelben Klinkern errichtetes Haus wie die Wolfener Apotheke wurde abgewaschen und blieb auch gelb. Früher lohnte dies nicht, binnen kurzer Frist war alles wieder grau. Erstaunlich auch, daß eine erste Untersuchung von Spiel- und Sportplätzen im gesamten Kreis vergleichsweise geringe und nur punktuelle Belastungen an Schwermetallen und Chlor-Verbindungen ergab, so daß keiner der Plätze gesperrt werden mußte. Beängstigend aber weiter die hohen Dioxinkonzentrationen, die an vielen Stellen im Kreis Garten- und Ackerbau zukünftig nicht mehr zulassen werden.

Systematisch saniert — sieht man einmal von den nicht immer nachvollziehbaren Abbrucharbeiten bei der Filmfabrik und der Chemie AG ab — wurde noch nirgends. Sanierungskonzepte spielten auch auf der Umweltkonferenz nur eine untergeordnete Rolle, Ideen für umweltfreundliche Produktion gar keine. Denn die politischen und wirtschaftlichen Vorgaben richten sich ganz auf einige Kernbereiche der bestehenden Chemie und jede Menge Entsorgungstechnologie. Die Chemie AG plant bereits einen „Entsorgungspark“ samt Gift- und Hausmüllverbrennung.

Die Region soll möglichst schnell als Industrie- und Chemiestandort wieder konkurrenzfähig gemacht werden. Umweltminister Töpfer will zeigen, daß „wir die Erblast von 40 Jahren in den Griff kriegen“. und schlägt vor, Bitterfeld in die Weltausstellung Expo 2000 einzubeziehen. Saniert wird zukünftig vor allem da, wo neue Nutzungen ins Haus stehen, während viele der Altlasten allein aus Kostengründen erstmal liegenbleiben werden. Zu dieser Empfehlung kommt auch das vom Bundesumweltminister finanzierte Pilotprojekt zur Sanierung der Chemie AG. Ein Viertel des 600 Hektar großen Betriebsgeländes könne ohne Sanierung an neue Firmen vergeben werden. Die Hälfte der Fläche sei deutlich verseucht, aber sanierbar, das übrige Viertel wird man wegen extremer Giftigkeit wohl liegenlassen und noch die Enkel mit seiner Bewachung beschäftigen. Zu ähnlichen Ergebissen würde man übrigens auch auf Werksgeländen in den alten Bundesländern kommen — wenn nicht die Geheimhaltung der Konzerne davor wäre. In dieser Hinsicht liefern die Bitterfelder Analysen übrigens einmaliges Datenmaterial.

Als erster Sanierungs-Schritt für die Region gilt das unmittelbar neben dem zukünftigen Bayer-Werk für Lacke, Kosmetika und Kleister geplante Gemeinschaftsklärwerk Bitterfeld-Wolfen. 90 Millionen Mark investiert Töpfer in dieses 350 Millionen teure Unternehmen, das Voraussetzung für jede Industrieansiedlung ist, 120 Millionen gibt das Land. Doch ökologisch vernünftig ist das Klärwerk nicht, das der Umweltminister da großzügig bezuschußt. Mehrere Wissenschaftler kritisierten auf der Umweltkonferenz, daß die Vermischung von Industrie- und kommunalem Abwasser die Säuberung erschwert und zudem hochgiftigen Klärschlamm hinterläßt, der verbrannt werden muß. Die Gründe für ein Gemeinschaftsklärwerk liegen denn auch woanders: Zuschüsse zu dem ursprünglich allein von der Chemie AG geplanten Projekt gibt es nur, wenn sich die Kommunen beteiligen.

Und schon hat Chemie-Riese Bayer die Kommunen im Klammergriff: Das Klärwerk, verlangt der Konzern, der 500 Leute beschäftigen will, müsse zum Produktionsbeginn 1994 fertig sein, andernfalls würde das Chemie-Abwasser ungeklärt und ungeachtet irgendwelcher Grenzwerte in das sogenannte Spittelwasser eingeleitet — wie zu Honeckers Zeiten. Mit Arbeitsplätzen im Angebot läßt sich heute viel machen in der Bitterfelder Region.

So wird der Spatenstich, den Minister Töpfer im April 1991 auf der grünen Wiese neben der Chemie AG tat, um das Klärwerk zu gründen, zum Symbol: genau dort läßt heute Bayer für 100 Millionen Mark aus öffentlichen Geldern eine 60 Hektar große Fläche für sein Werk planieren, unmittelbar neben einem Naturschutzgebiet. Bagger tragen den vorhandenen Boden ab, sauberer Austauschboden wird herbeigeschafft und aufgeschüttet, Rohrsysteme müssen verlegt werden, Kleingärten für die Zufahrtsstraße verschwinden. Zum Auftakt der Bitterfelder Umweltkonferenz hatte Klaus Töpfer erklärt, neue Unternehmen sollten möglichst nicht auf der grünen Wiese, sondern auf vorhandenen Industrieflächen angesiedelt werden — und gleichzeitig die Bayer-Ansiedlung begrüßt. Mitte dieses Jahres ist Baubeginn. Ein erstes Kapitel „ökologischer Sanierung“ in Bitterfeld.

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