: Ein Musterbezirk für Schmuddelkinder
■ In Prenzlauer Berg eröffnete das erste Ostberliner Selbsthilfeprojekt »pluspunkt e.V.« für Menschen mit HIV und Aids Im Ostteil der Stadt werden immer mehr HIV-Positive verzeichnet/ Im Haus nebenan ist auch gleich die Drogenberatung
Prenzlauer Berg. Das Schöneberger »Café PositHIV« hat sein Pendant im Ostteil der Stadt gefunden. Mit »pluspunkt e.V.« eröffnete gestern in der Ueckermünder Straße 1A in Prenzlauer Berg das erste Ostberliner Selbsthilfeprojekt von und für Menschen mit HIV und Aids. Nach Einschätzung von Ina Hermann, Mitglied des Nationalen Aids- Beirats, hat der Szene-Kiez damit »Weststandard« erreicht.
Im Gegensatz zum zweiten Prenzel'berger Aids-Projekt »jedermann e.V.«, das sich der Primärprävention verschrieben hat, kümmert sich pluspunkt um Leute mit positivem Testergebnis und deren Angehörige. Das Angebot reicht vom gemeinsamen Kochen über Plauder- und Trommelrunden bis zur Beratung bei Fragen des Sozialrechts, des Krankengeldes und der Rente. »Wir sprechen in erster Linie Ostberliner an«, sagte pluspunkt-Vorstand Uwe Jahn. Den »familiären Charakter« des Projekts findet Ina Hermann dabei »wichtig«. Angesichts der Verständigungsprobleme zwischen Ost und West trauen sich viele Ossis nicht ohne weiteres in die Beratungsläden im Westen.
Pluspunkt e.V. entstand aus der ersten Positivengruppe der DDR, die im Sommer 1990 in der Charité gegründet worden war. Nach zähem Ringen mit den Behörden kam der Verein Mitte 1991 in der Genuß von Staatsknete aus dem »Bundesmodellprogramm zur Aids-Prävention für die neuen Bundesländer« und den Töpfen der Berliner Gesundheitsverwaltung. Die Räume nahe der Bornholmer Brücke — vermittelt von Prenzel'bergs Sozialstadtrat Kraetzer (SPD) — wurden in Eigeninitiative gelb und weiß gestrichen und mit Tüchern behängt. »Der erste Eindruck ist wirklich toll«, staunte Gesundheitssenator Peter Luther (CDU). Die pluspunkt-Mitarbeiter rechnen damit, daß ihre Angebote in großem Umfang genutzt werden. Zwar gibt es in Ost-Berlin nach der Statistik des Bundesgesundheitsamts »nur« 150 HIV-Positive und 33 an Aids erkrankte Menschen, doch die wirklichen Zahlen liegen weitaus höher. Nach Ansicht von Ina Hermann müsse von einem »kontinuierlichen Anstieg« der Infiziertenrate insbesondere in der Schwulenszene ausgegangen werden: »Jede Woche kommen drei neue Positive zu uns in die Charité«, Hermann befürchtet, daß die Kapazität von pluspunkt schon bald erschöpft sein und es zu Engpässen bei der ambulanten Pflege kommen könnte. Der Senat müsse umgehend einen Ostableger des Pflegeprojekts HIV e.V. finanzieren.
Unterdessen ist nicht einmal die Zukunft von pluspunkt gesichert, Ende 1993 läuft die Förderung seiner drei festen Stellen aus dem Bundesmodellprogramm aus. »Dann müssen wir uns etwas einfallen lassen«, reagierte Gesundheitssenator Luther gelassen. Er könne sich »vorstellen«, das Projekt vollständig in die Landesfinanzierung zu übernehmen.
»Für die anderen Ostberliner Bezirke und Städte in den neuen Bundesländern ist pluspunkt beispielhaft«, versicherte der Senator. Das Selbsthilfeprojekt ist Teil des Verbundmodells verschiedener Aids- Projekte unter dem Dach der Prenzel'berger Infektionsklinik, in der ab 1. April eine Tagesklinik für Aids- Patienten eröffnen soll.
Nicht zuletzt kommt pluspunkt der von Aids-Hilfe-Chef Hans-Peter Hauschild immer wieder geforderten, in der Praxis aber schwierigen »Allianz der Schmuddelkinder« aus Schwulen und Junkies ein wenig näher. Und im Nachbarhaus hat die erste Drogenberatungsstelle im Osten Berlins in freier Trägerschaft ihren Sitz. Micha Schulze
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