: Der rot-grüne Giftmüllexporteur
■ Weniger als die Hälfte des niedersächsischen Giftmülls bleiben im eigenen Land / Ergebnisse einer Fachtagung
Der letztendlich für den ganzen Giftmüll zuständige Beamte im niedersächsischen Umweltministerium drückte sich noch vorsichtig aus: Die Entsorgungssituation in Niedersachsen gebe aus ökologischer wie strukturpolitischer Sicht erheblichen Anlaß zur Besorgnis, sagte Müll-Abteilungsleiter Konrad Keller auf einer Fachtagung zum neuen Sonderabfallkonzept, die gestern in Hannover zu Ende ging, und stellte im Fazit seiner „Situationsanalyse“ vor 100 Vertretern aus Wirtschaft, Verwaltung und Umweltverbänden fest: „Niedersachsen löst seine Sonderabfallprobleme zum großen Teil in anderen Ländern“.
Anspruch und Wirklichkeit stehen sich in dem rot-grün regierten Bundesland unversöhnlich gegenüber. Die Koalitionäre in Hannover wollen eine „umweltverträgliche Abfallwirtschaft“, die „größerers Gewicht auf die Umsteuerung der Produktion“ als auf „neue Entsorgungsmöglichkeiten“ legt. Doch in der Realität ist das Land ein großer Giftmüllexpoteur, dem abseits aller langfristigen Konzepte aktuell die Entsorgungsmöglichkeiten fehlen.
1,86 Mio Tonnen im Jahr
Produziert werden in Niedersachsen zur Zeit etwa 1,86 Millionen Tonnen Giftmüll im Jahr. Davon werden laut Konrad Keller etwa 1,4 Millonen Tonnen deponiert, 235.000 t wandern in chemisch-physikalische Behandlungsanlagen, ein weiterer Teil verschwindet in Zwischenlagern.
Zudem fallen jährlich zwischen 95.000 und 120.000 Tonnen an, die „thermisch behandelt“, also nach der TA-Abfall in der Regel verbrannt werden sollen, was aber nicht immer auch geschieht. Nach der Statistik der mehrheitlich landeseigenen „Niedersächsischen Gesellschaft zur Endablagerung von Sonderabfall“ (NGS), die all jenen Giftmüll erfaßt, der nicht sogleich in betriebseigene Entsorgungsanlagen wandert, wurden etwa im dritten Quartal des letzten Jahres nur 49 Prozent des niedersächsischen Giftmülls auch im Lande selbst „entsorgt“. Nordrhein- Westfalen übernahm 15% der niedersächsischen Gifterzeugung, Bremen 13%, Hamburg 7%, Mecklenburg-Vorpommern, also die Deponie Schönberg 4%, der Restverteilte sich auf die übrigen Bundesländer oder auch das Ausland.
Die chemische oder physikalische Behandlung des niedersächsischen Giftmülls findet nach Angaben des Umweltministeriums vor allem in Bremen und Nordrhein-Westfalen statt. Nur 87.000 der 235.000 Tonnen, die vor der Deponierung oder für die Wiederverwertung behandelt werden, wanderten tatsächlich in niedersächsische Anlagen. Zu diesen 87.000 t gehört auch eine Menge von 40.000 t, die nach der Behandlung in Schönberg deponiert wird. Es handelt sich dabei um Abfälle mit hohen Anteilen an organischen Chemikalien, die eigentlich verbrannt werden sollten und für die die TA-Abfall nur noch für eine Übergangszeit die Deponierung erlaubt.
Auch bei der Giftmüllverbrennung ist Niedersachsen zur Zeit völlig exportabhängig. Von den rund 68.000 t von der NGS jährlich erfaßten Abfällen, die anschließend thermisch behandelt wurden, wanderten nur 26.000, also nicht einmal 40%, in Anlagen im Lande selbst. Über 28.000 t gingen allein nach Hamburg und mehr als 12.000 t nach Nordrhein-Westfalen.
Angesichts dieser Situation verwundert es nicht, das bei dem vom Umweltministerium erarbeiteten „Sonderabfallkonzept Niedersachsen“ nur ein Kompromiß zwischen Notstandsmanagement und Zukunftskonzept herausgekommen ist. Bei einer Fortschreibung der gegenwärtigen Produktions- und Entsorgungsstruktur hat das Ministerium 1996 mit 2,3 Millionen Tonnen niedersächsischen Giftmülls zu rechnen, davon sollen eine Millionen Tonnen durch stärkere Beratung und Überwachung der Giftmüllproduzenten vermieden werden.
Allerdings sieht sich das Ministerium gezwungen, auch wenn dieses Ziel tatsächlich erreicht wird, eine ganze Reihe neuer Entsorgungsanlagen, sprich Giftmüllkippen und Behandlungsanlagen bis zur Verbrennung zu schaffen. Dazu gehören etwa vier Deponien für giftige Massenabfälle, die Inbetriebnahme der Pyrolyseanlage, in Salzgitter, eine neue chemisch-physikalische Behandlungsanlage im Raum Hannover/Braunschweig und Kapazitätserweiterungen bei schon bestehenden Verbrennungsanlagen. Weiterhin mit großen Mengen beschicken will das Land die Hamburger Giftmüllverbrennungsanlage. Außerdem hält es das Umweltministerium für notwendig, in Niedersachsen eine neue moderne Hochtemperaturverbrennungsanlage zu bauen, die eine „relevante“ Kapazität hat.
Bei dieser Vielzahl von neuen Anlagen und Genehmigungen vermißte der Landesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (LBU) denn auch „den Umbruch in der Abfallpolitik“. Mit dem Sonderabfallkonzept habe die rot- grüne Landesregierung „in schamloser Eindeutigkeit jetzt all die Entsorgungspläne auf den Tisch gelegt, gegen die sich die BI's seit Jahren zu Wehr setzen“, empörten sich die Umweltschützer.
Der ersten Fachtagung zu dem neuen Konzept will das Umweltministerium nun einen „Runden Tisch“ folgen lassen, an dem von Industrie bis Umweltverbänden alles sitzen und sich am Ende irgendwie zusammenraufen soll. Der LBU hat allerdings seine Teilnahme an dieser Veranstaltung abgesagt, da im politisch maßgeblichen Landtag bereits drei Anträge zu dem neuen Giftmüllkonzept auf der Tagesordnung stehen. Am Rande der Fachtagung erklärte dann auch noch der Geschäftsführer der niedersächsischen Unternehmerverbände, daß seine Organisation sich nicht an den besagten Tisch setzen werde, wenn die Landesregierung nicht bis zu dessen Konstituierung am 2. April zumindest einen Termin für eine Standortbennenung in Sachen Verbrennungsanlage festgelegt habe.
Eine solche Terminierung könnte allerdings der grüne Landesparteitag am kommenden Wochenende in Hildesheim unmöglich machen: Die Öko-Partei ist zwar strikt gegen den Giftmüllexport, lehnt aber auch neue Verbrennungsanlagen ab. Dies haben der Landesvorstand und die Giftmüllkommission des Landesverbandes auch in ersten Stellungnahme zu dem neuen Konzept bekräftigt. Jürgen Voges
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