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Sexuelle Gewalt im Brennpunkt

■ Einer der krassesten Fälle von Kinderpornographie wurde bis gestern vor dem Göttinger Landgericht verhandelt: Zwei Mädchen waren im Alter von damals neun und zwölf Jahren innerhalb einer großangelegten...

Sexuelle Gewalt im Brennpunkt Einer der krassesten Fälle von Kinderpornographie wurde bis gestern vor dem Göttinger Landgericht verhandelt: Zwei Mädchen waren im Alter von damals neun und zwölf Jahren innerhalb einer großangelegten Pornofilmproduktion sexuell schwer mißbraucht worden. Zu mehrjährigen Haftstrafen wurden jetzt neben den Eltern der Filmproduzent und ein weiterer Akteur verurteilt.

Zu Freiheitstrafen von dreimal sechs und einmal zwei Jahren ohne Bewährung hat das Landgericht Göttingen gestern die Angeklagten im „Kinderpornoprozeß“ verurteilt. Mit dem Urteil, bei dem es um acht sogenannte „Lolita“-Filme ging, die unter Mißbrauch von zwei Töchtern zweier Angeklagten produziert worden waren, geht das Gericht zum Teil noch über die Strafanträge der Staatsanwaltschaft hinaus. Zu sechs Jahren Haft wurde auch der Angeklagte Sch. verurteilt, den die Kammer als kommerziellen Hauptnutznießer bezeichnete; er habe den Inhalt der Pornostreifen bestimmt. Zu jeweils sechs Jahren wurden die Eheleute D. verurteilt, deren Töchter im Alter von damals neun und zwölf Jahren für die Pornostreifen mißbraucht worden waren, in denen, so der kammer-Vorsitzende, „alles dargeboten wurde, was anatomisch möglich war“. Jeweils eine Strafe von fünf Jahren erhielten die Mutter (32) und der Stiefvater (38) für den eigenen sexuellen Mißbrauch ihrer Kinder und jeweils zwei Jahre dafür, daß sie ihre Schutzbefohlenen anderen Männern für die Filme zur Verfügung gestellt hatten. Daraus machte das Gericht eine Gesamtstrafe von sechs Jahren. Für den vierten Angeklagten, der die Kinder bei Dreharbeiten zweimal mißbraucht hatte, folgte das Gericht mit zwei Jahren Haft dem Antrag der Staatsanwaltschaft, setzte diese Strafe allerdings nicht, wie gefordert, in eine Bewährungsstrafe um.

Seitdem der „Stern“ vor bald drei Jahren zwei JournalistInnen über acht Monate lang im Milieu der Kinderpornographie recherchieren ließ, um dann mit einer detailierten Serie aufzuwarten, zeigt sich die Öffentlichkeit provoziert. Die Bundesregierung reagierte in der vergangenen Woche — nachdem der entsprechende §184 des StGB seit bald 20 Jahren unverändert milde blieb — endlich mit einem neuen Gesetzentwurf in Sachen Kinderpornographie. Sie will unter anderem schon den Besitz entsprechender Videocassetten oder Schriften unter Strafe stellen. (s. taz v. 26.3.92).

Kinderpornographie ist von der reinen Handlung her nichts anderes als sexueller Mißbrauch — nichts anderes, als die sexuelle Gewalt, die sich im Kinderschlafzimmer abspielt, wenn Vater, Onkel oder Bruder ein Mädchen zu sexuellen Handlungen zwingen. Der sexuelle Mißbrauch von Mädchen — sie sind in der Mehrzahl die Opfer sexueller Gewalt — ist kein Phänomen unserer Video-Gesellschaft. Es hat ihn immer gegeben, in erster Linie da, wo er nicht vermutet wurde — nämlich in der Familie. Gerade dort also, wo man meinen könnte, hier müßten Mädchen besonders sicher sein. Diese „Sicherheitszonen“, zu denen neben der Familie auch pädagogische Einrichtungen gehören, sind genau die Orte, wo Mädchen oft schon sehr früh mit einer Erwachsenensexualität konfrontiert werden, die ihr weiteres Leben existentiell prägt — und zwar ausschließlich negativ.

Kinderpornographie ist daher kein Teilaspekt des sexuellen Mißbrauchs, sondern sexuelle Gewalt gegen Mädchen, die sich über die Vermarktung verschärft. Mädchen werden über ihren Körper zur Ware gemacht. Kinderpornographie ist ein kühl kalkuliertes Geschäft mit sexueller Gewalt. Je jünger die Mädchen, umso begehrter, umso teurer. Und nicht selten fällt dabei über Kontaktanzeigen auch ein „Stück Frischfleisch“ für den Lolita-Fan ab, der es liebt, die Filmszenen im „echten Leben“ nachzuspielen. Britische Studien belegen, daß der Konsum von Pornographie Hemmschwellen in dieser Hinsicht abbaut.

Im Göttinger Prozeß standen Eltern vor Gericht, die ihre Töchter zu sexuellen Handlungen vor der Kamera gezwungen haben. Michael Baurmann, Psychologe beim Bundeskriminalamt, bezeichnet diese Abhängigkeitsverhältnisse innerhalb von Familien als „Sklavenhaltersituation“. Väter handeln oft nach dem Motto: „Das ist meine Tochter, ich habe sie produziert und kann mit ihr tun, was ich will.“ Wenn ein Mädchen nicht mitmachen will, droht ihm Liebesentzug und die Ausgrenzung aus der Familie. Wenn es gehorcht, gibt es eine Belohnung.

Erst die Kinderpornographie macht sexuellen Mißbrauch öffentlich sichtbar. Erst hier erhitzt die sexuelle Gewalt gegen Mädchen die Gemüter. Denn wen packt nicht das „kalte Kotzen“, wenn ein privater Produzent und Händler sich während der Betrachtung eines Kinderpornos zu der Bemerkung hinreißen läßt: „Ja mei, ist doch ein herrliches Hobby, was wir da haben!“ Und wenn sich in der Bundesrepublik kein Mädchen findet, das über ihre Eltern oder den Bruder angeboten wird, so reist mann eben in die „Dritte Welt“. Mehr als 80 Prozent des Materials, das durch deutsche Sammlerbestände läuft, zeigt weiße, männliche Körper mit herauskopiertem Kopf, die thailändische oder philippinische Mädchen zu sexuellen Handlungen zwingen.

Beratungsstellen wie das Berliner Frauenprojekt „Wildwasser“, weisen schon seit Jahren auf die katastrophalen Folgen und Konsequenzen für die Opfer sexueller Gewalt hin. Die Zerstörung einer sich gerade erst entwickelnden sexuellen Identität führt zu Schädigungen von oft unermeßlicher Tragweite. Für viele Frauen ist es bis ins Erwachsenenalter hinein unmöglich, eine lustvolle und positive eigene Sexualität zu leben. Erlebte sexuelle Gewalt wird von Mädchen häufig geleugnet und verdrängt. Indem sie das Geschehen von sich abspalten, schützen sie sich vor den unaushaltbaren Verletzungen und versuchen, im Alltag zu überleben. Existieren pornographische Aufnahmen, so ist ein Leugnen der sexuellen Gewalt unmöglich. Fotos und Videofilme werden vervielfältigt. Die betroffenen Mädchen haben keinen Einfluß auf die Verbreitung. Tauchen pornographische Produkte im Laufe einer Ermittlung auf, so beginnt der Spießrutenlauf. Polizeibeamte erscheinen an den Schulen und legen der Schulleitung das Material vor. Häufig existieren unüberschaubar viele Kopien eines Fotos. Die Opfer sind meist zu identifizieren. Für ein Mädchen, das der sexuellen Gewalt vor laufender Kamera oder vor dem Objektiv eines Fotoapparates ausgesetzt war, gibt es keine Möglichkeit mehr, sich von allem zu distanzieren — auch wenn viele es versuchen. Denn die erste Reaktion auf ein vorgelegtes Foto ist in der Regel: „Das bin ich nicht!“

Der sexuelle Mißbrauch — und erst recht dessen Vermarktung — löst fast immer starke Betroffenheit und Wut aus. Es dauert allerdings nicht lange, und die Gemüter beruhigen sich wieder. Dann folgt in der Regel Schweigen. Wie das auf die vielen Mädchen wirkt, die ohne Anteilnahme in der Krise und ohne Hilfe bei der Aufarbeitung alleingelassen werden, läßt sich nur erahnen. Karin Flothmann

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