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■ IN ULM WAR AM DIENSTAG KAUM NOCH EIN 'SPIEGEL– ZU BEKOMMEN. WARUM?Sehr viel Geld ausgegeben

Sehr viel Geld ausgegeben

Ulm (taz) — Es begann bereits am grauen Montag morgen. In der noch verschlafenen ehrwürdigen Donaustadt Ulm startete eine Gruppe von Menschen eine ebenso bizarre wie zunächst undurchsichtige Aktion. Von Kiosk zu Zeitungsladen eilten eifrige Gestalten und taten dort überall nur eines: Sie versuchten alle Exemplare des Hamburger Nachrichtenmagazins 'Der Spiegel‘ aufzukaufen.

Türken seien es gewesen, meinten die Verkäufer übereinstimmend, die offensichtlich versucht hätten, die ahnungslosen Ulmer davon abzuhalten, sich durch den Kauf des begehrten Magazins mit irgendeinem Teufelszeug zu infizieren. Am Ulmer Bahnhofskiosk sei gar einer mit einem Handwägelchen vorbeigekommen und habe 200 Stück gekauft, erklärte die Verkäuferin dort.

Die Aktion war nicht allein auf Ulm beschränkt, sondern hatte auch Orte um Ulm und um Ulm herum erreicht. Im siebzig Kilometer entfernten Heidenheim etwa kauften Türken allein am Bahnhof „80 Exemplare auf einen Streich“, wie die 'Heidenheimer Zeitung‘ in ihrer gestrigen Ausgabe berichtete. Auch in anderen Kiosken und Schreibwarengeschäften in Ulm, Heidenheim, Reutlingen, ja bis nach Stuttgart hin seien die Herren aktiv geworden.

Ein Bekenneranruf beim Südwestfunk, der am Dienstag erstmals darüber berichtet hatte, wies als Veranstalter jener „Zensur durch Aufkaufen“-Strategie den „Türkisch-Islamischen Kulturverein“ in Ulm aus, der mit der Aktion habe verhindern wollen, daß „Lügen“ über die Auseinandersetzungen im türkischen Teil Kurdistans verbreitet würden. Der Anrufer hätte außerdem eine „öffentliche Verbrennung“ der Hefte auf dem Ulmer Münsterplatz angekündigt, meinte Hendrik Zorn vom Südwestfunk in Ulm. Auf Nachfrage beim Kulturverein in Ulm hieß es jedoch, dies hätte man „noch nicht gesagt“. „Der Aufkauf von etwa 1.000 Ausgaben“ des 'Spiegel‘ sei „als Protest gegen einen Artikel“ zu verstehen. Der Beitrag, der sich mit der Gewaltwelle gegen die Kurden in der Türkei auseinandersetzt und die „Scharfmacher auf beiden Seiten“ ihre Ziele erreicht haben sieht, hatte den Zorn der Organisierten erweckt.

Gegenüber der 'Neu-Ulmer Zeitung‘ bekannte sich der erste Vorsitzende des Türkisch-Islamischen Kulturvereins jedoch ganz offen zu dieser Aktion. In der ganzen Region, so Cahait Ay, sei dies von den jeweiligen Kulturvereinen so gemacht worden. Koordiniert worden sei der Massenkauf von Geislingen aus. Der 'Spiegel‘ habe falsch über die Ereignisse in der Osttürkei berichtet. „Die Wahrheit“ könnten Interessierte bei den Kulturvereinen erfahren, zitiert das Blatt den Vorsitzenden. Außerdem kündigte Ay tatsächlich eine öffentliche Verbrennung der Magazine in den nächsten Tagen anläßlich einer Demonstration türkischer Staatsbürger in Ulm an.

In dem mit „Den Kurden den Krieg erklärt“ übertitelten Beitrag — das Zitat stammt vom Generalsekretär der kurdisch-sozialistischen Partei HEP — über das brutale Vorgehen des türkischen Militärs gegen kurdische Nationalisten in Südostanatolien, das bereits Hunderte Menschenleben forderte, war die Haltung der türkischen Regierung und des Militärs offen kritisiert worden, die Verantwortung des türkischen Militärs für die vielen Toten vom 21.März, dem kurdischen Frühlingsfest, hervorgehoben. „Mitten in einem Land“, heißt es dort, „daß sich gern zu Europa zählt und Mitglied der Europäischen Gemeinschaft werden möchte, ließen die Generäle wahllos in die Menge schießen. Während die Behörden über sechzig Tote eingestanden, sprachen die Kurden von bis zu 400 Opfern.“

Geschildert wird auch die Ermordung des Journalisten Izzet Kezer „durch Kugeln, die aus einem gepanzerten Fahrzeug abgefeuert worden waren, als er, mit einer weißen Fahne in der Hand, einer Frau helfen wollte“. Und weiter heißt es: „Der Einsatz der türkischen Truppen gilt einem Volk, dessen etwa 22 Millionen Angehörige keinen Staat haben, sondern verteilt auf Gebieten der Türkei, Syriens, des Irak, des Iran und der ehemaligen Sowietunion leben. Jahrzehntelang wurden den etwa zwölf Millionen Kurden in der Türkei selbst elementare Minderheitenrechte verweigert. Nicht einmal die kurdische Sprache wurde von Ankara zugelassen.“ Diese Passagen waren es offenbar, die den Erzürnten so richtig satanisch vorgekommen waren.

Die Polizei sieht augenblicklich keinen Handlungsbedarf. Rechtsgründe seien nicht verletzt worden. Schließlich handele es sich vorerst nur um den massenhaften Kauf einer Zeitschrift. Das sei absolut legal. „Erkenntnisse darüber, ob diese Aktion von außen — etwa direkt aus der Türkei — gesteuert war, oder ob die ehemals in Ulm starken rechtsextremistischen ,Grauen Wölfe‘ dahinter stecken, liegen den Staatsschutzabteilungen nicht vor“, heißt es in der 'Neu-Ulmer Zeitung‘. Eines steht jetzt schon fest: Allein für 1.000 'Spiegel‘ mußten immerhin 4.500 Mark hingeblättert werden. Philippe André

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