: Riga dimd - Riga dröhnt
■ Ein beschaulicher Streifzug durch die Stadt an der Daugava
Ein beschaulicher Streifzug
durch die Stadt an der Daugava
VONPETERHÖH
Immer dichter wird der Verkehr vom äußeren Autobahnring in Richtung Zentrum. Vorbei an monströsen Neubausiedlungen, die das alte Riga einschnüren, geht es über die vierspurige Einfallstraße Richtung Altstadt. Undurchschaubar das Gewirr der vielen gutausgebauten Einfallstraßen und Stadtautobahnen. Das Gedränge, Geschiebe und Gehupe erreicht die Dimension westlicher Großstädte. Riga dröhnt.
So großzügig Rigas Straßen angelegt sind, so selten sind Wegweiser. Doch der weithin sichtbare Turm der Akademie der Wissenschaften zeigt den Weg in das Herz der Hauptstadt Lettlands. Riga, die Stadt an der Daugava. Dem breiten Strom, den die Deutschbalten Dunäa nannten, verdankt die Metropole ihre Entstehung, Entwicklung und Bedeutung.
Mit fast einer Million Einwohnern ist Riga die größte Stadt des Baltikums. Sie war zweitgrößter Ostseehafen des zerfallenen Sowjetimperiums. Gegründet wurde sie 1200 vom Bremer Domherr Albert, als dieser mit einer Armada von 23 Schiffen die Daugava hinauffuhr und mit dem Schwert in der Hand und dem Segen von Papst Innozenz III. im Herz die einheimischen Stämme blutig „missionierte“. Schnell wuchs die Hafenstadt zum zentralen Handelsplatz. 1282 tritt sie der Hanse bei und übernimmt Hamburger Stadtrecht. Die deutschen Kaufleute und Handwerker, deren Kontore und Innungen den Letten versperrt bleiben, kontrollieren die prosperierende Hansestadt. Erst der Hitler-Stalin-Pakt von 1939, der dem roten Diktator das Baltikum ausliefert, beendet die jahrhundertelange deutsche Vor- herrschaft. Die „deutschen Volksgenossen“ kehren auf Befehl Hitlers „heim ins Reich“.
Prächtige Patriziervillen, Kontore und Bürgerhäuser prägen bis heute das Bild der mittelalterlichen Altstadt, die von den mächtigen Türmen seiner vier Kirchen beherrscht wird. Der Bummel durch die schmalen Gassen wird zum Spaziergang durch die Geschichte der Stadt. Hier die große und kleine Gilde, einst Standesvertretungen der herrschenden Kaufmanns- und Handwerkerschicht, heute als Philharmonie und Kulturhaus genutzt. In zentraler Lage der Dom, in dem die Gebeine des Stadtgründers Albert ruhen. Das Schwedentor, letztes erhaltenes Stadttor, steinerner Zeuge der hundertjährigen Herrschaft des skandinavischen Nachbarn. Direkt am Ufer der Daugava das Schloß, das den Gotteskriegern des deutschen Schwertbrüderordens als Trutzburg diente. Jüngeren Datums dagegen das in roten Marmor gemeißelte Denkmal der roten lettischen Schützen, die gegen die deutsche kaiserliche Armee kämpften und nach der Oktoberrevolution 1917 die Sowjetmacht in Lettland ausriefen. Spuren der jüngsten Revolution die Barrikaden und Befestigungen, die mitten im historischen Zentrum rings um Parlament und Rundfunkgebäude die Straßen blockieren.
Doch die Zeichen der neuen Zeit sind unübersehbar. Die alte Luxusherberge „Hotel de Rome“ erhält mit Unterstützung der Partnerstadt Bremen ihren alten Glanz zurück. Am Bauzaun baumeln Werke Rigaer Künstler, die sich mit dem Straßenverkauf ihre Existenz zu sichern versuchen. Dicht umlagert die kleinen Stände, die Zeitungen, Broschüren und billige Sexheftchen feilbieten.
Wo früher Wallanlagen und Wassergräben die Altstadt schützend umschlossen, zieht sich heute ein grüner Gürtel quer durch das Zentrum. Jenseits davon die Neustadt. Inmitten der Parkanlage ragt die goldglänzende Statue auf der Spitze des Freiheitsdenkmals hoch in den Himmel. Drei Sterne hält sie in ihren Händen — Symbole für die alten lettischen Regionen Kurzeme, Vidzeme und Latgale. Ein Meer von Blumen umkränzt ihren mächtigen Sockel. „Für Vaterland und Freiheit“, steht dort in großen goldenen Lettern.
Unweit davon das Denkmal des Nationalhelden Janis Rainis. Auch der Volksdichter in Denkerpose, in dessen Werken sich die lettische Sehnsucht nach Freiheit und nationalem Selbstbewußtsein widerspiegelt, blickt auf einen Blumenteppich.
Schnurgerade zieht sich der große Boulevard, der Alt- und Neustadt verbindet. Von Lenin, bis vor kurzem noch Namensgeber dieser Schlagader Rigas, ist nichts mehr zu sehen. Dort, wo er übermannsgroß die Faust revolutionär in den Himmel reckte, wächst nun Rasen.
Immer dichter wird das Gedränge der Fußgänger auf der Haupteinkaufsstraße. Endlos die Schlangen vor den Läden und Geschäften. Nur mit Mühe und Dauerbimmeln können sich Straßenbahn und Trolleybus ihren Weg durch das hektische und geschäftige Gedränge bahnen. Viele kleine Spezialgeschäfte, kleine Straßenstände, fliegende Händler. Eine Bäuerin, die Äpfel verkauft. Zigeuner in bunten Trachten, die getrocknete Früchte und selbstgefertigten Schmuck vor sich ausbreiten. Aus Autofenstern werden Lotterielose angepriesen. In vielen Schaufenstern ein buntes Sammelsurium von Kabeln, Werkzeug, Antennen, Schaltern und sonstigen Mangelwaren. Juweliere mit schwerem Goldschmuck in der Auslage. Süßwarenläden im Jugendstilambiente mit Bonbons, Pralinen und Konfekt. In den Cafés zum Ausruhen gibt es meist keinen Kaffee, sondern nur süßen Tee. (Achtung Raucher: Sämtliche gastronomische Einrichtungen sind strikt nikotinfrei!)
Lohnend der Abstecher zur Suvorova ilea in der südlichen Neustadt. Einst die Hauptgeschäftsstraße Rigas, ist sie jetzt Einkaufszentrum und Treff der kleinen Leute, die sich die Preise auf dem schicken Boulevard nicht leisten können. Zwischen kleinen Reparaturbetrieben und Teestuben bieten auf den schmalen Bürgersteigen private Händler auf Holzkisten Obst und in den Wäldern gesammelte Pilze und Beeren an. Aus allen Teilen des Landes und der untergegangenen Sowjetunion treffen an der zentralen Busstation und am Bahnhof täglich Menschen ein, um in der lettischen Hauptstadt Waren zu finden oder ihre eigenen Produkte zu verkaufen. Niemand kann mehr vom normalen Lohn sein Leben bestreiten. Die Preise steigen. Geschäfte nebenbei sind Normalität.
Endlos die Menschenmassen, die sich vom Bahnhof zum zentralen Kolchosmarkt bewegen. In vier gigantischen Hallen wird dort alles angeboten, was die Kolchosen des Landes produzieren. Erbauen ließ die Hallen 1930 die deutsche Reichswehr, um die Zeppeline ihrer Kurländischen Armee unterzustellen. Vor den Hallen hat sich der private Bauernmarkt etabliert. Was sich in Heimarbeit herstellen oder auf der kleinen eigenen Scholle produzieren läßt, wartet auf Käufer.
„Land der Dichter“ nennen die Letten ihre Heimat. Nährboden der lettischen Kultur und Tradition sind die „Dainas“, die Lieder des Volkes. Über eine Million (bei 2,7 Millionen Einwohnern) dieser meist kurzen Vierzeiler, die den Alltag, das Leben und die Arbeit der einfachen Menschen beschreiben, sind archiviert. Begonnen mit ihrer Sammlung hat Johann Gottlieb Herder, der von 1764 bis 1769 in Riga lebte.
Berühmtestes und größtes Fest der Stadt und des Landes ist das alljährliche Sängerfest. Auf der Monumentalbühne im Mesapark treffen sich Chöre und Ensembles. Riga dröhnt.
Rock- und Heavy-Metal-Konzerte lokaler Bands gehören ebenso zum Alltag wie der abendliche Disco-Besuch. Wer die Szene Rigas kennenlernen will, der ist in der Lenina ilea 24 an der richtigen Adresse. Neben dem Café „Allegro“ und Jugendzentrum ist in dem Gebäude auch das „Galaktika“, die größte Disco der Stadt, untergebracht. Nach Mitternacht aber erlischt das öffentliche Nachtleben weitgehend. Nur die teuren gastronomischen Einrichtungen der internationalen Hotels sind noch geöffnet.
Am Rande der Stadt, längs der Ufer des Juglasees, liegt das ethnographische Freilichtmuseum, ein wichtiger und vielbesuchter Ort nationaler Identität. In der weitläufigen natürlichen Parklandschaft wurden traditionelle Holzgebäude — Windmühlen, Dorfschenken, Kirchen, Fischerhütten, gar ganze Siedlungen — aus den drei historischen Regionen Lettlands zusammengetragen und, originalgetreu eingerichtet, wieder aufgebaut.
„Riga dimd“, Riga dröhnt, so lautet der Titel einer alten Daina, deren Melodie das Glockenspiel der St.- Petri-Kirche viermal täglich über die Altstadt erschallen läßt und die jeder Rigaer mitsummen kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen