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Rechenschaft — nach 45 Jahren?

In Hamburg wird heute das Urteil über zwei DDR-Rentner gefällt, denen vorgeworfen wird, 1947 einen Wehrmachtsrichter in einem sowjetischen Gefangenenlager gelyncht zu haben  ■ Aus Hamburg Clemens Grün

Sechs Monate währte die Verhandlung der Großen Strafkammer 22 des Hamburger Landgerichts, heute nun wird das Urteil verkündet. Im Prozeß um den Tod eines deutschen Wehrmachtsrichters verhandelte eine Generation von Söhnen und Töchtern, gar von Enkeln über zwei Großväter. Der Vorsitzende Richter Dr. Erdmann (53) selbst dürfte kaum Erinnerungen an die Leiden des Zweiten Weltkriegs haben. Seine beisitzenden Richter Detlev Grigoleit (37) und Britta Schlage (35) wie auch die beiden Schöffen besitzen die Gnade der späten Geburt.

Geurteilt wird über die beiden DDR-Rentner Gerhard Bögelein und Karl Kielhorn. Ihnen wurde mit der Anklageschrift vom 8. Mai 1991, vertreten vom Hamburger Oberstaatsanwalt Duhn, der Vorwurf gemacht, 1947 im sowjetischen Kriegsgefangenenlager Nr.57 (im baltischen Klaipeda) an der Ermordung des aus Husum stammenden Wehrmachtsrichters Kallmerten beteiligt gewesen zu sein. Bö. soll, gemeinsam mit dem seit Jahrzehnten verschollenen damaligen Lagerelektriker We., Kallmerten den Kopf eingeschlagen und die Kehle durchgeschnitten haben. Ki., zur Zeit der Tat nicht einmal eine Woche Leiter der Lager-Antifa, wurde die Organisation der Tat vorgeworfen.

Der kühle, arrogante Wehrmachtrichter

Zu den Gegnern der eher locker verbundenen Antifaschisten im Internierungslager zählten viele der ehemaligen Offiziere. Sie brauchten, gemäß der Genfer Konventionen, nicht zu arbeiten, wurden nicht zwangsrasiert und erhielten größere Verpflegungsrationen. Einer wie Oberstabsrichter Kallmerten mit seiner politischen Ablehnung der Antifa, seinen rhetorischen Fertigkeiten und seiner nordischen Unnahbarkeit mußte da schnell zu einem Angriffspunkt der Antifa-Aktivisten werden. Bei vielen tanzte „die Tarantella im Blut“, wie der russische Historiker Prof. Jefim Brodski in einem taz-Interview am 3. April 1992 erläuterte. Die Sowjets duldeten keine Lynchjustiz in den Lagern. Dennoch kam es in der Nacht zum 4. oder zum 5. Juni 1947 in einem Zimmer der ehemaligen Offiziersbaracke zum Mord am Kriegsrichter.

Der Getötete war, vor seiner militärischen Laufbahn, die er 1939 als einfacher Schütze begann, Anwalt im schleswig-holsteinischen Husum gewesen. Dort galt der offensichtlich deutschnational Gesinnte als Gegner der NSDAP. Auch die Leitung des Klaipedaer Kriegsgefangenenlagers attestierte dem Getöteten posthum, er sei „ohne Parteizugehörigkeit“ gewesen. Kallmerten war gleichwohl durch seine Verstrickung in das Terrorsystem der deutschen Kriegsgerichtsbarkeit schwer schuldig geworden. Er verurteilte in seiner Zeit als Feldgerichtsrat, später Oberstabsrichter, also von seiner Berufung am 17. März 1943 bis zur Kapitulation der deutschen Truppen am 8. Mai 1945, eine wohl dreistellige Zahl von Menschen zum Tode.

Über das barbarische System der Wehrmachtsjustiz fällte noch im letzten Jahr ein oberstes deutsches Gericht das nötige Urteil. Das Bundessozialgericht (BSG) hat am 11. September 1991 im Fall der Rente einer Witwe, deren Mann noch zwei Monate vor Kriegsende in Breslau hingerichtet worden war, „das offensichtliche Unrecht der Todesurteile und Hinrichtungen“ in der Wehrmacht gebrandmarkt. Während die westlichen Alliierten während des gesamten Krieges etwa 300 Todesurteile vollstreckten, kamen in der Todesmaschinerie der deutschen Kriegsjustiz alleine 20.000 deutsche Soldaten um.

In der 99seitigen Anklageschrift von Oberstaatsanwalt Duhn, aufgrund derer er Bö. und Ki. verhaften ließ, stehen dennoch Ungeheuerlichkeiten wie folgende: „Ernsthafte Anhaltspunkte dafür, daß unter den Urteilen des Kallmerten auch nationalsozialistisch ausgerichtete Terrorurteile [...] gewesen sind, gibt es nicht. Vielmehr sind entsprechende Behauptungen eine Widergabe der im Lager von der Antifa gegen Kallmerten betriebenen Hetzkampagne.“

Die Justiz kommt zu spät für den Täter Bö.

Bö., der mittlerweile 68jährige, sitzt seit eineinhalb Jahren in Untersuchungshaft. Obwohl jünger als der vom weiteren „Vollzug der Untersuchungshaft“ verschonte Ki., wirkt Bö. älter. Vor Gericht steht nicht der zur Tatzeit 23jährige Lagerinsasse, der, nach Übertritt in die Rote Armee 1944, im Lager Klaipeda für den sowjetischen Dienst NKWD gelegentlich Verhöre durchführt. Vor Gericht steht ein greiser Rentner, dessen Erinnerungsvermögen und sein meist trockener Humor immer seltener aufblitzen. Ein Mann, der aus dem Krieg schwerste seelische Verwundungen mitbrachte und einen, seinen Ausweg in alkoholischen Exzessen fand. Der seit den sechziger Jahren immer wieder in psychiatrischer Behandlung war und darüber abhängig von stärksten Psychopharmaka wurde. Welchen Bö. will man hier eigentlich verurteilen? Für den möglichen Täter Bö. kommt die Justiz ein paar Jahrzehnte zu spät.

Während Bö. unterging, machte der andere Angeklagte im sozialistischen Staat Karriere. Ki., der vitale 72jährige, leitete bis 1980 beim DDR-Ministerium für Fachhochschulwesen die Abteilung für Grundfonds und Materialwirtschaft. Nach einem Herzinfarkt konnte er, als persönlicher Referent des stellvertretenden Ministers für Ökonomie, die Dinge etwas ruhiger angehen lassen. 1988 ging der gelernte Vermessungsingenieur in Rente.

Schon in den 50ern kein normales Mordverfahren

Erst die Vereinigung der beiden deutschen Staaten ermöglichte, wovon der Ermittlungsrichter Kurt Steckel schon 1952 geträumt hatte — die Verhaftung der beiden DDR- Rentner. Seine jahrelange Arbeit an diesem Fall, die von ihm zusammengetragenen Zeugenaussagen, bilden auch für das heutige Verfahren die Grundlage. Dabei hatte sein Tun Anfang der fünfziger Jahre fast manische Züge angenommen. Die teilweise mehrmalige Vernehmung von bald 275 Zeugen quer durch die Republik sprengt jeden Rahmen eines normalen Straf-, auch eines Mordverfahrens. Das läßt sich kaum anders als mit Rachegelüsten erklären. Steckels offensichtliches Gefühl einer Verbundenheit mit dem Berufskollegen war nicht zufällig. Denn auch Steckel war als Sonderrichter in Königsberg und bei der Rechtsanwaltschaft am Volksgerichtshof tief in die mörderische Justiz des NS- Staates verstrickt.

Die Verteidigung des Angeklagten Ki. hatte es schließlich nicht schwer: Ein unkomplizierter Mandant, die Arbeitsteilung zwischen zwei engagierten Rechtsanwälten (neben Schwenn verteidigte auch Verena Sieh) und der nach dem Ende der Beweisaufnahme vom Staatsanwalt geforderte Freispruch, der gesichert scheint. Bö.'s Verteidigung hingegen gestaltete sich schwieriger. Den ersten Anwalt lehnte der Angeklagte ab, mit dem ihn ersetzenden Rechtsanwalt Dr. Greve kam Bö. ebenfalls nicht sonderlich klar. So übernahm die engagierte Anwältin Gabriele Jarke mit bewundernswerter Geduld die Verteidigung des schwierigen Mandanten fast allein.

Mit ihrem ausführlichen, außerordentlich präzisen und stellenweise brillanten Plädoyer hat die vorher manchmal unterschätzte Verteidigerin Kritiker Lügen gestraft. Sie wies darauf hin, daß ihr Mandant mit „gerade 17 Jahren“ zur Wehrmacht einberufen wurde, also als Jugendlicher schon in den mörderischen Krieg zog: „Was haben die Mitglieder des Gerichts, der Staatsanwalt, die Verteidiger wohl im Alter von 17, 18 Jahren gemacht? Die Tanzstunde besucht, sich aufs Abitur vorbereitet, Klavierstunden genommen, Tennis gespielt?“

Die Verurteilung von Bö., der nach der Vorlage von alten Dokumenten aus Moskauer Archiven in der Schlußrunde der Beweisaufnahme endlich zugab, Kallmerten die Kehle durchgeschnitten zu haben, bleibt trotz allem ungewiß. Ungewiß deshalb, weil nur noch wegen Mordes, der in Deutschland nicht verjährt, zu verurteilen wäre. Aber nicht jede Tötungshandlung ist Mord. Wenn der Wehrmachtsrichter während des Verhöres geschlagen oder gar von vorne getötet wurde, fiele möglichweise, so will es unser Recht, eines der wichtigen Merkmale für Mord weg — die Heimtücke. Das mögliche Motiv für die Tötung, nämlich die Erregung über ein Sekunden vor der Tat von Kallmerten geschriebenes und unterschriebenes Eingeständnis seiner hundertfachen Todesurteile, könnte das Mord-Indiz „niederer Beweggrund“ aus der Welt schaffen. Und schließlich geht auch das Gericht davon aus, daß schon der erste Schlag, mit einem Hammer? einem Lötkolben?, tödlich war — der Schlag, der wahrscheinlich von We. ausgeführt wurde. Bö. will Kallmerten nicht getötet, sondern nur einem Toten die Kehle durchgeschnitten haben. In seinem „Letzten Wort“ gab der Angeklagte einen seltenen Einblick in sein Seelenleben: „Ich habe mehr Angst vor einem Leben in Ungewißheit und Einsamkeit als davor, den Rest meines Lebens im Gefängnis zu verbringen.“ Ob jemand wegen Mordes verurteilt werden kann, der einem Toten die Kehle durchschnitt?

Kallmertens Tochter als Nebenklägerin

Zum Schluß des Plädoyer-Reigens erhob eine Frau das Wort, die prozessualtechnisch als Nebenklägerin fungierte und im wirklichen Leben eine von zwei Töchtern des Getöteten ist. Die in Straßburg lebende Frau Sackmann-Schäfer verzichtete in einer großartigen menschlichen Geste auf singuläre Schuldzuweisungen. Sie, die ihren Vater zuletzt sah, als sie zehn Jahre alt war, stellte vielmehr die Frage nach dem Sinn dieses Prozesses. Für sie kein juristischer, eher ein menschlicher — was in diesem Land oft zweierlei ist. Frau Sackmann-Schäfer, die an dem Prozeß teilgenommen hatte, um das Bild ihres Vaters zu überprüfen, legte schließlich die Meßlatte eines solchen Prozesses so hoch, wie sie gehört bei der Aburteilung von Taten, die ein halbes Jahrhundert zurückliegen: „Wofür werden wir in 45 Jahren zur Rechenschaft gezogen werden? Wofür klagen unsere Enkel uns an?“

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