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Chronistenpflicht

Leo Dembickis literarische Chronik der gewaltsamen Vertreibung der Juden in Prag  ■ Von Peter Schütt

Was für ein Buch! Zugegeben, der Zugang wird dem Leser nicht eben leicht gemacht. Sein Verlag hat zwar ein profiliertes Programm, aber in den Medien noch nicht das entsprechende Renomée, und der Name des Autors ist nur Eingeweihten bekannt. Sein Buch nennt sich Roman, aber eigentlich handelt es sich mehr um eine literarisch gestaltete Chronik, eine aus eigenem Erleben und Mitleiden gefilterte Chronik eines lang angekündigten massenhaften Todes.

Der Chronist Toni Bergmann, ein Prager Verwandter des Toni Buddenbrook, Sohn eines gemäßigt deutsch-nationalen Rechtsanwalts, erlebt eine ausgesprochen glückliche und unbeschwerte Kindheit im Prag der Zwischenkriegszeit. Er besucht nach der zweisprachigen Volksschule im Wohngebiet ein angesehenes deutsches Gymnasium. Die meisten seiner Mitschüler sind Juden, aber wie ihre Eltern empfinden sie sich durchweg als Träger deutscher Kultur, manche halten sich sogar regelrecht für Deutsche. Sie sind deutscher Zunge, jüdischen Glaubens und tschechoslowakischer Staatsangehörigkeit und sind mehrheitlich stolz auf ihre dreifache Identität. So genau — mit ausgesprochener Liebe zum Detail, zur Anekdote und zur Arabeske — wie Leo Dembicki hat vermutlich noch kein Autor die komplizierte, aber überaus produktive deutsch-jüdisch-tschechische Symbiose in der „windstillen Zeit zwischen den Katatstrophen“ dargestellt. Atmosphärisch dicht, voller Farben, Gerüche und Geräusche, schildert er das multikulturelle Miteinander von Deutschen, Juden, Tschechen, Slowaken und Zigeunern in der „altklugen“ Stadt an der Moldau. Mit chronistenhafter Sorgfalt beschreibt er die Straßen, Cafés, Antiquariate, Kinos, Kirchen und Synagogen Prags und bleibt immer wieder vor den mittelalterlichen Glockenspielen und Uhrwerken stehen — als poetische Signale der nahenden Endzeit. Dabei hütet sich der Erzähler vor nostalgischer Verklärung und spart auch die sich aus dem Zusammenprall verschiedener Kulturen ergebenden Konflikte im Familienleben, in der Schule und im Alltag nicht aus. Die Toleranz zwischen den verschiedenen Nationen und Religionen — Katholiken, Hussiten, Juden und Atheisten leben Tür an Tür zusammen — muß täglich neu erprobt werden.

Das kommende Unheil kündigt sich in scheinbar harmlosen Witzen, Frotzeleien und Mißverständnissen an, ehe es im Jahr der Reifeprüfung, 1938/39, gewaltsam hereinbricht, als Hitler zunächst die Sudetenlande und dann die „Resttschechei“ besetzt. Die deutsche Kultur in Prag, die in Wahrheit eine deutsch-jüdische Kultur war, findet ein jähes Ende und wird durch „preußische Soldatenstiefel zerstampft“. In diese Zeit fällt Toni Bergmanns erste Liebe. Was romantisch beginnt, endet tragisch. Eva Steiner, Tochter eines deutschfreundlichen Juden, versucht über Polen ins westliche Ausland zu fliehen, wird unterwegs vom Krieg eingeholt und verschwindet spurlos.

Fortan, im gewaltigen Rest des Buches, beschreibt Dembicki mit dokumentarischer Genauigkeit die Leidensstationen seiner Prager Mitschüler und Mitschülerinnen, seiner Feunde und ihrer Familien auf dem Weg in den Abgrund. Evas Schwester Dita wird als angeblich Geisteskranke mit Elektroschocks zu Tode gequält, ihre Mutter begeht Selbstmord, ihr Vater springt bei einem Sondereinsatz in Mauthausen in den Tod. Lisa Bachmann kommt in einem Lagerbordell um. Die allermeisten müssen unendlich lange Eisenbahntransporte quer durch Europa antreten, ehe sie in Lettland erschossen, im Ghetto erschlagen oder in Auschwitz vergast werden. Am qualvollsten ist vielleicht der Leidensweg von Heinz Adler. Er entkommt bei einer Massenexekution in Lettland, reist mit falschen Papieren quer durch das Reich, macht noch einmal in Prag Station und wird schließlich bei der Überquerung der Grenze zur Schweiz von einem Zöllner in Konstanz erschossen. Die Todeswege der Gefährten werden ähnlich wie bei Anna Seghers ineinander verschränkt, aber anders als im Siebten Kreuz ist der einzige Überlebende kein Held, sondern einer, der zufällig davongekommen ist. Er empfindet sein Überleben zeitlebens als Schuld und als Schande und anerkennt nur noch eine einzige Lebensaufgabe: die Todeschronik seiner Jugendfreunde aufzuzeichnen.

Kein Zweifel: Leo Dembickis Dunkles Licht gehört zu den bleibenden Zeugnissen des Holocaust. Es zählt zu den wenigen Büchern, denen es gelingt, das Unfaßbare faßbar, das Unsagbare sagbar zu machen. Es ist zugleich ein aktuelles Buch, weil es zwei unauslöschliche Kapitel aus der Geschichte der deutsch-tschechischen Beziehungen beschreibt, die von nun an hoffentlich endgültig in friedlichere Bahnen gelenkt werden. Er verschweigt nichts, weder die deutschen noch die tschechischen Irrtümer und Irrwege, und ist auch deshalb ein überzeugendes Plädoyer für die Versöhnung zwischen den benachbarten Völkern.

Leo Dembicki: Das dunkle Licht. Roman einer Epoche 1924-1945. Anita Tykve-Verlag, Böblingen. 460Seiten, gebunden, 38DM.

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