: Den Akt zeigt er nie
Maurice Pialats „Van Gogh“-Film ■ Von Christiane Peitz
Ein Selbstmord findet nicht statt. Keine Verzweiflung, keine Pistole, kein Schuß, kein Geschrei. Van Gogh tritt aus dem Gebüsch, er hält sich die Seite. Ein Freund eilt herbei, van Gogh fällt zur Erde. Vorher hatte man ihn beim Rasieren gesehen; das scharfe Messer am Kinn und am Hals. Aber nein, das war kein Spiel mit dem Tod und der prüfende Blick in den Spiegel galt nur der Rasur. Direkt danach das Hervortreten aus dem Gebüsch. Die blutige Stelle an der Hüfte ist kaum zu erkennen. Die Ausflugsgesellschaft rennt zu den Kutschen und flüchtet. Van Gogh kehrt in seinen Gasthof in Auvers zurück, allein.
Das Rasiermesser, die Szene im Freien: Wo der Zuschauer den Tod assoziiert, sieht er sich getäuscht; und wenn er, beim Picknick im Grünen, erleichtert aufatmet, ebenfalls. Maurice Pialat legt eine Spur und verwischt sie wieder. Den Akt des Malens zeigt er nie. Nur wie van Gogh Farbe aufträgt und die Pinselstriche mit dem Lappen verwischt. Das Davor und Danach. Als Maurice Pialat jung war, wollte er selbst Maler werden. Er mußte aufhören, aus Geldmangel, und wurde Vertreter. Zum Film kam er viel später.
Van Gogh stirbt. Er liegt im Bett seines Zimmers im Gasthof. Ein Eisengestell, eine weiße Wand, ein Stuhl, eine Kommode. Der Arzt fragt: „Ist es eine Kugel?“ Van Gogh nickt. Der Arzt klopft die Einschußstelle ab. „Sollen wir operieren?“ Van Gogh schüttelt den Kopf. Der Arzt wäscht sich die Hände; es dauert länger als die Untersuchung des Verletzten. Die Wirtsfrauen legen den Kranken auf die Seite, ziehen das schmutzige Laken hervor, rollen ihn auf die andere Seite und breiten ein neues aus. Routinierte Handgriffe, Alltag. Bruder Theo kommt zu Besuch, Vincents Kunsthändler und Finanzier. Man bringt Suppe. Gachet, den kunstsinnigen Doktor, weist van Gogh wortlos ab. Einmal sagt er: „Cher Théo.“ Und zu der hübschen Wirtstochter: „Ma petite“. Unten im Schankraum werden die Stühle hochgestellt. Der Zimmernachbar geht Essen holen. Im nächsten Bild liegt der Maler gegen die Wand gedreht, zusammengekrümmt. Man sieht nur den Rücken. Das ist der Tod.
Wenn im Kino jemand stirbt, sagt er ein letztes Wort, und dann bricht der Blick. Es geschieht immer pünktlich. So macht der Tod Sinn und zeigt Wirkung. Pialat erspart van Gogh den Kinotod. Kein Schlußwort, kein letzter Atemzug. Bloß ein paar belanglose Sätze und das Atmen eines Kranken. Das macht keinen Effekt. Jemand schließt die Tür, und einen Moment lang sind wir allein im Zimmer. Der Stuhl, die Kommode, ein paar Bücher, der Tote im Bett. Bei Pialat ist der Tod ein Faktum. Wie ein Gegenstand.
Am Morgen werden im Gasthof die Stühle wieder heruntergestellt. Der Wirt trägt die Flaschen zur Theke, der Arzt stellt den Totenschein aus, Doktor Gachet läßt sich seine Unkosten von Theo begleichen, auf dem Hof wird Wäsche gewaschen. Die Wirtsfrau klemmt sich den Fuß in der Bodenluke, jammert und schreit, bis sie verarztet wird. Endlich ein Drama, aber es gilt dem verletzten Fuß.
Als van Gogh nach Auvers kommt, lehnt er jedes Glas Wein ab. „Ich trinke nicht“. Dann trinkt er doch. Vielleicht ist es Höflichkeit, vielleicht die Sucht. Vielleicht sieht Alkoholismus so aus: Etwas, das man nicht sehen kann. Jacques Dutronc spielt van Gogh. Der in Frankreich als Dandy und Sänger bekannte Schauspieler hatte gerade eine Alkoholentzugskur hinter sich. Eine blasse, magere, wortkarge Gestalt, mit knochigem Gesicht; man sieht die Sehnen, die Adern, die Furchen rechts und links neben dem Mund. Seine Augen traurig zu nennen, wäre ein Euphemismus; Dutroncs Blick hat keine Eigenschaften. Selten sieht man Schauspieler auf der Leinwand, die einen ahnen lassen, wie wenig ein Mensch von sich preisgibt, wenn er sich ins Gesicht schauen läßt. Die Mimik Dutroncs, das Lächeln, das kurze Aufblitzen der Augen verweisen nicht auf einen Gemütszustand; seine Mienen sind nichts weiter als Muskelbewegungen. Selbst sein Wutanfall, beim Besuch des Bruders in Paris, ist mehr körperlicher Akt als Ausdruck von Seelenpein. Nachdem er den gedeckten Tisch umgeworfen hat, geht er ins Bordell — und ißt zu Abend.
Oder genauer: Die Wut des Künstlers (darauf, daß keiner seine Bilder kauft) äußert sich nicht in ihrem Ausbruch, sie ist mit ihm identisch. Bei Dutroncs van Gogh gibt es keine Vermittlung zwischen Innen und Außen, Seele und Körper. Ähnlich wie van Goghs Bilder nie leugnen, daß die Figuren, der Himmel, das Kornfeld aus nichts als Pinselstrichen bestehen. Wenn Dutronc malt, schweigt, trinkt, vögelt (mit Cathy, der Prostituierten und mit Marguerite, der Tochter des kunstsinnigen Arztes Gachet), tut er es unvermittelt, schnell, um seiner selbst willen. Seine Weigerung, den täglichen Verrichtungen einen tieferen Sinn zu unterstellen — keine Weigerung, die er ausspricht, eher eine Körperhaltung —, das Direkte, gewissermaßen rein Äußerliche, hat etwas Brutales. Es gibt kein inneres Geheimnis, das er der Außenwelt vorenthält. Es ist die Außenwelt, die ihm den Mythos andichtet, einen verschlossenen Charakter unterstellt und den Geniekult bereithält, weil sie auf einen Nenner bringen will, was nicht zusammenpaßt: eine Biographie.
Pialat entkleidet die Lebensgeschichte van Goghs — und es könnte auch die eines beliebigen Zeitgenossen sein — ihres nachträglich unterstellten Sinns. Er wollte eine Person zeigen, die nicht weiß, daß sie van Gogh ist. Der Film beginnt mit van Goghs Ankunft in Auvers und endet mit seinem Selbstmord. Vorher war er in der Irrenanstalt St. Remy, wo er sich ein Teil seines Ohrs abgeschnitten hatte. Als Cathy ihn wiedertrifft, sagt sie: „Man sieht überhaupt nichts mehr.“ Es ist das einzige Mal, daß van Goghs Ohr erwähnt wird. Eine Nebensache. Pialat konzentriert die letzten Wochen des Malers auf die Nebensachen. Van Gogh ist ein Film über die täglichen Verrichtungen.
Van Gogh soll Marguerite malen, wie sie Klavier spielt. Sie ziert sich, macht alberne Posen. Er sagt, sie soll damit aufhören. Kaum hat er ein paar Striche gepinselt, kommt der Vater und gibt seinen Kommentar ab. Die Köchin ruft zu Tisch. Keine fünf Minuten kann der Maler arbeiten. Dann ist das Bild in Windeseile fertig. Immer die gleiche Schnittechnik: Vorher, nachher. So ist es, wenn van Gogh mit Cathy schläft, so ist es später im Bordell. Die Männer gehen mit den Huren die Treppe hoch, Schnitt, sie kommen wieder herunter und rücken ihren Hosenbund zurecht. Das Zentrum bleibt leer.
Theo kommt zu Besuch, mit Frau und Kind. Die van Goghs tafeln bei den Gachets, wieder zeigt Pialat nur die Vorbereitungen in der Küche und die Späße im Anschluß an den Nachtisch. Und am Ende eine lange Einstellung, wie Gachets Sohn hinter den Gästen das Tor schließt.
Theo und seine Frau Jo zu Hause: Sie streiten sich über Vincent. Jo reagiert widersprüchlich: Mal verteidigt sie das Recht des Schwagers auf finanzielle Unterstützung, mal beschimpft sie ihren Mann: „Vincent ist Deine Tänzerin, die Du Dir nicht leisten kannst.“ Sie streiten auf der Bettkante, im Nebenraum weint das Baby. Theo bittet seine Frau, ihr einen Pickel auszudrücken. Oder sie unterhalten sich, als Jo sich wäscht. Sie hockt nackt in einem flachen Waschbottich — es ist der einzige Anblick einer nackten Frau — Theo hilft und gießt zwei Kannen Wasser über sie. Das Dreckwasser schütten sie gemeinsam aus. Der Alltag vor hundert Jahren hat bei Pialat nichts Malerisches oder Naturwüchsiges. Sich auf diese Weise zu waschen, ist unpraktisch und arbeitsintensiv. Kein erotischer Anblick.
Van Gogh hat 70 Millionen Francs gekostet, für französische Verhältnisse ein teurer Film. Dabei gibt es keine aufwendigen Requisiten und keine Massenszenen. Ich nehme an, das Teure waren die Recherchen, die Rekonstruktion von Alltag. Van Gogh ist einer der ganz wenigen Filme, in der die historischen Kostüme nicht wie Verkleidungen aussehen; man vergißt fast, daß wir uns heute anders kleiden. Als Marguerite, die van Gogh im Pariser Bordell aufsucht und dort eine Nacht lang mit ihm feiert, tanzt und trinkt, bis er sie rüde aufs Bett wirft, im Zug mit ihm nach Auvers zurückkehrt, fährt sie zum erstenmal dritter Klasse. „Eng hier“, sagt sie. „Die Armen sind dünner“, erklärt van Gogh. Für einen solchen Dialogsatz muß man erstmal wissen, daß die Sitze in der dritten Klasse damals schmaler waren als in der ersten. Um über Pialats Film angemessen zu berichten, müßte man Hunderte dieser kleinen Szenen beschreiben.
In seiner Weigerung, die sorgfältig inszenierten Details zu einem sinnvollen Ganzen, einer Lebensgeschichte, einem Charakter zusammenzufügen, gleicht Pialats Film Jane Campions Janet-Frame-Trilogie An Angel at my Table. Auch Pialat filmt das, was sonst im Kino weggelassen wird: die Szenen nach dem konventionellen Schnitt. Van Gogh nicht nur ein Film gegen den Mythos vom wahnsinnigen Genie, sondern auch gegen die Kinokonvention. Der Produzent, Daniel Toscan du Plantier, in einem Interview: „Das Kino wird eine Kunst des Luxus sein, oder es wird nicht sein. Es ist zum Ereignis verdammt, zum Extrem.“ Das Ereignis ist diesmal, daß keines stattfindet: die Unaufgeregtheit. Nur ganz selten mischt sich in die Enthaltsamkeit doch eine Spur Pietät: cineastische Askese, auf daß die Aura des Künstlers nicht angetastet werde. Aber das mag daran liegen, daß der Zuschauer im Gegensatz zu Dutroncs van Gogh weiß, wer das ist: der Schöpfer der teuersten Bilder der Welt. Man müßte es vergessen können.
Nach van Goghs Tod trifft Marguerite einen weiteren unbekannten Maler. Der Neuling erkundigt sich nach all den Größen, die vor ihm da waren; van Gogh erwähnt er nicht. Als sie seinen Namen fallen läßt, fragt er, ob sie ihn gekannt habe. Sie hebt ihren Trauerschleier: „Er war mein Freund.“ Diesmal ist ihr Stolz keine Pose.
Maurice Pialat: Van Gogh, mit Jacques Dutronc, Alexandra London, Gerard Sety, Bernard le Coq, Frankreich 1991, 158 Min.
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