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EINE DER GRÖSSTEN SEENPLATTEN EUROPAS DROHT DIE ÖKOLOGISCHE KATASTROPHE

Der masurische Teufelskreis

Gyzycko/Lötsch (taz) — Der Kontrast könnte nicht größer sein. Roman Stanczyk, Vorsitzender der staatlichen polnischen „Stiftung zum Schutz der Großen Masurischen Seen“ deutet mit einem Stock in die Brühe, die in einem halbfertigen Klärbecken leise vor sich hinblubbert und dabei den durchdringenden Gestank fauler Eier in der Umgegend verbreitet. In der Brühe schwimmen weiße Flocken, Schaum und verschiedene andere, wenig vertrauenerweckende Teilchen, unsichtbar dabei sind Phosphor und Detergentien aus den Haushalten der nahegelegenen Kleinstadt Gyzycko, deren 29.000 Einwohner den Großteil ihrer Abwässer einfach in den See leiten. Der erstreckt sich schilfumwachsen und von Wäldern eingerahmt zwischen der Klärwerkbaustelle und der Stadt fast bis an den Horizont. Jetzt, Anfang Juni, wo noch kaum Touristen in Gyzycko sind, liegt er still unter den Sonnenstrahlen, die warm durch die Bäume dringen. Doch der Niegocin-See, einer der größten der Masurischen Seenplatte, ist längst kein Idyll mehr. Was Stanczyk mit seinem Stock in der braunen Brühe des Klärbeckens umrührt, hat den Niegocin vierzig Jahre lang zugrunde gerichtet. Heute ist das Baden rund um den See ausnahmslos verboten. Den Analysen zufolge paßt er in keine polnische Trink- und Badewassernorm mehr, regelmäßig werden tote Fische ans Ufer geschwemmt, die an Sauerstoffmangel eingehen oder an Phosphorvergiftungen. Badende, die die Warntafeln ignorieren, kommen mit Ausschlägen aus dem Wasser.

„Der Kanal, der Gyzycko durchläuft, ist die Wasserscheide. Nördlich davon fließt alles in die Ostsee, südlich davon in die Weichsel“, erklärt Stanczyk. „Doch bevor die Abwässer von Gyzycko in der Weichsel landen, durchlaufen sie den gesamten südlichen Teil der Großen Masurischen Seen und reichern sich dabei an. So vergiftet ein See den andern, weil alle miteinander in Verbindung stehen.“ „Wenn es uns gelingt, nur die Hälfte dieses Klärwerks bis Ende des Jahres in Betrieb zu nehmen“, so Stanczyk, „würde das bis ins Jahr 2000 hinein reichen.“ 30 Milliarden Zloty, umgerechnet 3,75 Millionen DM würde das kosten. Davon bringen die Stadt Gyzycko und die Wojewodschaft zusammen sieben Milliarden Zloty auf, die USA und die EG beteiligen sich mit jeweils 500.000 Dollar. Bleibt ein Fehlbetrag von neun Milliarden Zloty, der dadurch eingespart werden soll, daß auf alles verzichtet wird, was zur Wasserreinigung nicht unbedingt notwendig ist: Zufahrtswege, Geländer, Verwaltungsgebäude.

Wir brauchen viel mehr Tourismus, nur so kommen wir an das Geld, das wir für den Umweltschutz brauchen. Aber gleichzeitig müssen wir darauf achten, daß der Tourismus uns die Umwelt nicht kaputt macht“, überlegt Wojtek Lukowski von der Bürgerinitiative „Gemeinschaft Masuren“. In der Gegend um Gyzycko gibt es nicht viel Industrie, die meisten Bewohner sind in der Landwirtschaft tätig. Damit allein kann sich die Gegend nicht über Wasser halten.

An Tourismus hat Masuren ohnehin schon einiges vorzuweisen, zumindest für polnische Verhältnisse. 2,5 Millionen Menschen besuchen die Gegend im Jahr, allerdings konzentriert sich der Run auf die Sommermonate und verläuft außerhalb jeder Planung und Kontrolle. Die Touristen verteilen sich auf die wenigen, sündhaft teuren Orbis-Hotels der Gegend, nächtigen in Privathäusern oder zelten — meist wild — an irgend einem See, wo sie dann Kormorane, Wildenten und Haubentaucher in die Flucht schlagen. Nach der Saison ähneln die Seeufer häufig mehr einer Müllhalde als einem Naturschutzgebiet.

„Der Touristenzustrom müßte sich vervielfachen, um die Wirtschafts- und Agrarkrise auszugleichen“, findet deshalb Jens Loenholdt, Project Manager der dänischen Cowiconsult, die im Auftrag der EG einen Entwicklungsplan für Masuren erstellt. Loenholdt hat mit dänischen und polnischen Experten eine Analyse über den Finanzbedarf der notwendigen Umweltinvestitionen erstellt. Insgesamt schätzen den die Dänen nur für die Wasserreinhaltung auf 250 Millionen DM. Hereinkommen soll das Geld durch den Tourismus. Klotzen statt kleckern ist die Devise der Dänen: In der Region soll ein Flughafen entstehen, die Straßen ausgebaut werden und der Schienenverkehr intensiviert werden. Hotels müssen gebaut werden.

Vor Ort ist die Begeisterung über die Arbeit der Dänen gering. Ihnen wird vorgeworfen, an der Bevölkerung vorbei zu arbeiten, ohne regionale Interessen zu berücksichtigen. Auftraggeber der Dänen ist das Warschauer Umweltministerium, bezahlt werden sie aus EG-Fonds im Rahmen der Know-how-Hilfe für Polen. Auf die Ergebnisse ihrer Arbeit, die wiederum als Grundlage für Kredite der Weltbank, der Europäischen Entwicklungsbank und anderer Investoren dienen werden, hätten die Betroffenen kaum Einfluß. Wojtek Lukowski von der „Gemeinschaft Masuren“: „Sie sammeln mühsam Daten, die wir schon längst haben, und machen Vorschläge, die wir schon lange verworfen haben.“ Mit einem Flughafen in der Gegend mag sich Lukowski zum Beispiel nicht so recht anfreunden. „Es gibt hier bereits eine Privatfirma, die Helikopterflüge über die Seeplatte organisiert. Die Folge ist, daß von den acht Seeadlerpaaren, die hier letztes Jahr noch genistet haben, nur noch zwei da sind.“

Auch mit Massentourismus hat man bereits schlechte Erfahrungen gemacht, von den wilden Campern ganz abgesehen. Einige Kilometer nördlich der Wasserscheide, wo das Wasser noch in Ordnung ist, hat ein polnischer Geschäftsmann in Mikolajki eine 600-Betten-Burg, das „Hotel Golebiowski“ aufgebaut, in einer Stadt, die gerade 5.000 Einwohner hat. Ohne Kläranlage. Lukowski: „Was wir brauchen, ist sanfter Tourismus. Viele kleine Pensionen, die nicht zu teuer sind. Keine Bettenburgen für Luxustouristen.“ Ferien auf dem Bauernhof ist die Masche, häufig betrieben von Mitgliedern der deutschen Minderheit. „Das wird allerdings bisher nur so als Zusatzeinkommen betrieben“, kritisiert ein Lokaljournalist, „kaum ein Bauer investiert wirklich, kaum einer ist sich klar darüber, daß er in einigen Jahren seinen Hof zumachen muß und ihm dann nur das Zimmervermieten bleibt.“ Wie man an Kredite für die Umwidmung kommt, weiß in der Gegend niemand. Nur soviel: „Sie sind aufgrund der hohen Inflationsrate höllisch teuer.“ Die großen Kreditprogramme von IWF, IFC oder der europäischen Entwicklungsbank fangen aber alle erst bei fünfstelligen Summen an. Was Masurens Bauern brauchen, sind Kleinkredite.

Schon jetzt haben die Umweltschützer der Gegend ihr Leid mit den wenigen Seglern, die den Mamry bevölkern, weil sie sich für ihre Picknicks ausgerechnet die romantischen Inseln aussuchen und so allmählich die Vogelbrutplätze von Haubentauchern bis zu Seeadlern immer weiter zurückdrängen. Für Patrouillen, die sie davon abhalten und saftige Strafen verhängen, haben die anliegenden Gemeinden keine Mittel. Dabei liegt der Mamry nördlich der Gyzycko-Wasserscheide — er ist ein völlig sauberer See, in den fast keine Abwässer geleitet werden. Es ist absolut nichts Besonderes, an klaren Tagen auf dem See selbst Seeadler und Fischadler zu beobachten, Arten, die in Europa bereits weitgehend ausgestorben sind. Für Jens Loenholdt ist Masuren daher auch nicht einmal mit schwedischen oder finnischen Seenlandschaften vergleichbar: „Das ist alles noch viel urtümlicher, wilder und unberührter hier“, schwärmt er. „Eine Landschaft, die in Europa wirklich einzigartig ist.“ Klaus Bachmann

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