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Gouverneure und Gouvernanten

„Wir sind keine Sklaven“ — so die russischen Fibeln/ Doch Wirtschafterinnen, Ingenieurinnen und Programmiererinnen werden in Moskau scharenweise arbeitslos/ Der Haushalt ist das einzige brauchbare Handwerk, das sie beherrschen  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Neulich hat die Illustrierte 'Ogonjok‘ wieder einmal daran erinnert: Lenin träumte davon, daß jede Köchin in diesem Staate fähig sein sollte, das Regierungszepter zu schwingen. Dazu ist es nicht gekommen. Entweder — so meint die Zeitschrift resignierend — habe es bei den Köchinnen gehapert oder beim Staat. Und mit der Zeit verschwanden auch in den Haushalten all diese Dusjas und Marusjas, die noch in den Romanen der klassischen russischen Literatur herumspuken. Dienstboten konnten sich nur noch die höchsten Diener des Staates leisten.

Daß dies nun wieder anders wird, dafür sorgt in Moskau unter anderem das „Kommerzielle Lehr-Zentrum“ von Natalija Nesterowa. Natalija, heute Witwe mit vier Kindern, hatte einen musisch veranlagten Ehemann, was ja meist nicht viel einbringt. Und da sie einerseits nicht gern materiellen Verzicht leistete und sich andererseits schon in jungen Jahren über den Stumpfsinn sowjetischer Schul-Lehrmethoden ärgerte, ergriff sie die Chance und machte es besser: zuerst als Nachhilfe-Lehrerin, dann schon in größerem Stil. Nebenher studierte sie auch noch Arbeits-Ökonomie, und heute bildet sie mit etwa fünfhundert MitarbeiterInnen alles aus, woran es dem neuen Rußland gebricht: von Jungunternehmern über Börsenmakler bis zu Body-Guards — natürlich auch Gouvernanten und „Gouverneure“, wie hier die Privaterzieher heißen. Und eben auch Haushaltshilfen. Aber wer kann sich heute in Moskau solches Personal leisten?

„Es hat keinen Sinn zu leugnen, daß sich unsere Gesellschaft in letzter Zeit sozial sehr differenziert hat. Und es gibt Leute, die in der neuen Marktwirtschaft für sich schon einen Platz gefunden haben und denen es dabei so gut geht, daß es für sie kein Problem ist, gegen Geld die Kinder beaufsichtigen oder die Wohnung putzen zu lassen“, erklärt mir der Vizepräsident des Zentrums, Anatoli Michajlow. „Unsere alte Gewohnheit, daß beide Ehepartner arbeiten, möchten viele Ehepaare auch in der postsowjetischen Zeit nicht aufgegeben“, meint er, und die HauserzieherInnen-Lösung sei angesichts dessen die „optimale Variante für die Zukunft“. Das Zentrum vermittelt ErzieherInnen nur an Kinder über zwei Jahren, und selbstverständlich sollen sie für ihre Zöglinge mehr sein als nur Ammen. Zwei Semester lang werden hier Gouverneure und Gouvernanten darauf vorbereitet, das Kind im besten Sinne des Wortes in eine kultivierte Gesellschaft einzuführen. Sie machen sich nicht nur mit Entwicklungspsychologie, erster Hilfe und Kinderkrankheiten vertraut, sondern lernen auch, die Grundlagen einer Fremdsprache zu unterrichten sowie allerhand kunsthandwerkliche Fertigkeiten und Musikinterpretation. Sie befassen sich mit den großen Weltreligionen und der Gestaltung von häuslichen Feiertagen. Die Kursgebühr ist nicht billig, aber dafür bekommen die etwa zweihundert AbsolventInnen, die in den ersten beiden Jahren ausgebildet wurden, heute etwa sieben- bis zehntausend Rubel im Monat — gut ein doppeltes Durchschnittsgehalt. Das Zentrum hat sie alle vermittelt und sich dabei bemüht, die Kinder bei der Auswahl ihrer neuen Bezugsperson entscheiden zu lassen. Vor allem kleine Jungen wollen lieber einen eigenen „Onkel“ haben als eine „Tante“. Junge Männer stellen hier— ganz anders als sonst im weiblich dominierten russischen Erziehungswesen — fast die Hälfte der Anwärter. Und auch schon so mancher aus den ehemaligen Ostblockländern demobilisierte Soldat hat als „Gouverneur“ eine neue Bestimmung gefunden. Die Perspektiven sind glänzend: Schon ein Dutzend weiterer russischer Städte haben um die Eröffnung von Filialen gebeten.

Und woher rekrutieren sich die Putzfrauen und Wirtschafterinnen? An einem sonnigen Juninachmittag in einem idyllischen Hinterhof voller Bäume besuche ich die „Präsentation“: Das ist die Registrierung neuer Kursanwärterinnen und Eintragung der Wünsche ihrer künftigen Arbeitgeberinnen. Trotz des goldenen Lichtes liegt eine leichte Düsternis über der Szene. „Wir sind keine Sklaven“, lautete der erste Satz in den sowjetischen Lesefibeln, und jegliches Dienen wurde im dahingeschmolzenen Imperium nahezu als Bestandteil der Sklaverei angesehen, so daß es heute mitunter schon schwierig ist, eine höfliche und spontan hilfsbereite Krankenschwester zu finden.

Wer Putzfrau werden will, geniert sich dessen ein wenig, und die Hausherrinnen schämen sich, daß sie nicht alle Arbeit lächelnd selbst bewältigen können. Aber beide Gruppen sind eisernen Willens umzulernen — und darauf angewiesen sind sie auch. „Das Kontingent unserer Kursbesucherinnen ist eine genaue Kopie der Antragstellerinnen der Arbeitsämter“, erklärt mir die mütterliche Kuratorin dieses Ausbildungszweiges, Tatjana Borisowna: „Die meisten von ihnen haben eine höhere Bildung.“ Volkswirtschafterinnen, Ingenieurinnen, ja sogar Programmierinnen aus der weiblichen Mittelschicht der sowjetischen Intelligenz werden jetzt in Moskau scharenweise arbeitslos. Tatjana Borisowna begründet dies folgendermaßen: „Diese Frauen können nichts dafür, daß man ihnen damals eine Ausbildung gegeben hat, die international nur niedrigen Standards genügt. In der Praxis haben sie dann jahrelang nichts getan, außer Tabellen umzuwälzen, und heute will sie niemand mehr. Der Haushalt ist das einzige brauchbare Handwerk, das sie beherrschen. Nicht jede Frau versteht es, sich Arbeitslosenunterstützung zu erkämpfen. Das Mädchen, das vorher hier saß, hat nichts mehr zu essen im Haus.“

Der Kurs dauert sechs Wochen. Die Chefin des „Kommerziellen Lehr-Zentrums“, Natalija Nesterowa, leistet ihn sich aus weiblicher Solidarität. „Diese Fakultät arbeitet mit Verlust“, klärt mich Tatjana Borisowna auf. „Die 3.000 Rubel Gebühr können sich die Frauen leihen, aber eine längere Ausbildung könnten sie sich nicht leisten — sie müssen schnell Geld verdienen!“ Dafür verdienen sie dann bei einer 48-Stunden- Woche nicht wesentlich schlechter als die Gouvernanten und Gouverneure — und noch können sie sich ihre ArbeitgeberInnen aussuchen.

Und was lernen die künftigen Perlen? Alles mögliche, zum Beispiel die in Rußland fast ausgestorbene Kultur des Tischdeckens und Servierens, sparsames Wirtschaften, Wohnungshygiene und — Ethik. Ethik? „Wie man sich in der Gesellschaft und in einer fremden Familie benimmt“, erläutert Tatjana Borisowna. Und tatsächlich ist es auch für einen weiblichen Ex-Sowjetmenschen immer noch schwer zu verstehen, warum man nicht mit den Gästen der Herrschaft über Politik diskutieren oder ihnen vielleicht mal einen Witz erzählen soll.

Demnächst wird ein kombinierter Putz- und Babysitting-Kurs eingerichtet, der auch nicht länger als sechs Wochen dauert, aber die doppelte Anzahl von Unterrichtsstunden enthält. Nichts ist in Moskau heute gefragter als Putzfrauen, die nebenbei Kinder hüten. Vielleicht fände Lenin einen Trost darin, daß jetzt die Intellektuellen des sozialistischen Staates dem Nachwuchs der russischen Frühkapitalisten einen eigenen Schliff verleihen.

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