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Eine verpaßte Gelegenheit

■ Die Geschichte der tschechisch-slowakischen Beziehungen/ Elegie auf einen gescheiterten Zusammenschluß in Mitteleuropa

Seit ihrer Gründung nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreiches hat die Tschechoslowakei sich dem Vorwurf ausgesetzt gesehen, ein „künstliches“ Staatengebilde zu sein. Tatsächlich hatten beide Nationen, wenn man vom K.u.K.-Dach absieht, nie in einem Staatsverband gelebt. Die Slowakei war ungarisches Kronland, Preßburg jahrhundertelang Hauptstadt des ungarischen Reiches gewesen. Selbst in den Tagen, als die Donaumonarchie auseinanderfiel, schwankten die slowakischen nationalen Politiker, ob sie sich nicht doch lieber Rest-Ungarn anschließen sollten, um dann schließlich nolens volens die vollendeten Tatsachen — die Proklamation der CSR — zu akzeptieren.

Dieser neue Nationalstaat war demokratisch organisiert, respektierte die Menschenrechte, aber er hatte, wie es der tschechische Philosoph Imanuel Radl einmal formulierte, die Berücksichtigung von drei Kleinigkeiten vergessen: die katholische Kirche, die Deutschen und die Slowaken. Die tschechischen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit lebten aus dem Geist des „Tschechoslowakismus“, einer Ideologie, die dem Tschechentum eine besondere geschichtliche „Tendenz“ zur Demokratie zuschrieb und die Gründung des neuen Staates als Bestandteil eines universellen demokratischen Prozesses, der „Weltrevolution“ (Th. G. Masaryk) begriff.

Das Verhältnis dieser Intellektuellen zu den Slowaken war paternalistisch. Als Emissäre aus Prag wollten sie ein „zurückgebliebenes“ Bauernvolk modernisieren. Milde und pädagogisch, wie es den humanen Traditionen des tschechischen Erziehungswesens entsprach. Auch tschechisches Kapital floß aus dem industriell hochentwickelten Böhmen in die Slowakei, ohne allerdings bis in die späten 30er Jahre etwas an der agrarischen Grundstruktur des Landes zu ändern.

Alle Nationalstaaten Europas sind keineswegs „organisch“ gewachsen, sondern wurden „künstlich“ produziert — wenngleich oft innerhalb langer Zeiträume. Die Tschechen und Slowaken hätten sich aneinander gewöhnen, nach und nach auf gleichem Fuß miteinander verkehren können. Denn trotz der sehr unterschiedlichen Geschichte gab es zwischen beiden Nationen enge Verwandtschaftsbeziehungen, mitunter, seit den Tagen der Romantik, sogar einen Gleichklang der kulturellen Entwicklung. Aber der Siegeszug des Faschismus in Europa unterbrach diesen möglichen Prozeß. Er polarisierte beide Nationen, die Mehrzahl der Slowaken unterstützte nach dem Münchner Diktat eine klerikale Variante des Faschismus. Das Regime des Priesters Tiso war nichts als eine Quislingregierung — aber die Slowaken hatten ihren ersten Nationalstaat. Dennoch ist die Gleichung Tschechen-Widerstandskämpfer, Slowaken-Kollaborateure historisch unhaltbar. Schließlich ging vom Boden der Slowakei der große Nationalaufstand gegen die Deutschen aus.

Nach der Befreiung waren die Kommunisten bei halbwegs freien Wahlen in den böhmischen Ländern erfolgreich, in der Slowakei erlitten sie eine Niederlage. Über die Slowakei brach, entsprechend der realsozialistischen Doktrin, ein Sturm der Industrialisierung herein, der dem Land die schwerindustrielle „Basis“ bescherte. Speziell die Rüstungsindustrie wurde in den östlichen Teilen der Slowakei angesiedelt — in Greifnähe der sowjetischen Verbündeten. Dieser Moloch absorbierte zwar jede Menge Arbeitskräfte, verschlang aber gleichzeitig riesige Mengen Kapital. Jede Regierung, ob slowakisch, ob föderal, wird heute von ihm niedergedrückt.

Die soziale Mobilität, sprich der Aufstieg von Kadern aus den Unterklassen, brachte eine „Slowakisierung“ des Staats- und Verwaltungsapparates, wenngleich unter strikter Aufsicht der Prager Zentrale. Ein solcher Kader aus gediegener kommunistischer Tradition war Alexander Dubcek, slowakischer und nach dem Januar 1968 tschechoslowakischer Generalsekretär der KPC. Unter seiner Leitung gingen die Reformkommunisten daran, den „Geburtsfehler“ der Republik zu beseitigen. Sie wandelten die CSSR in eine Föderation um, eine Errungenschaft, die auch nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ nicht rückgängig gemacht wurde. Unter dem „Normalisierer“ Gustav Husak, dessen Opportunismus eigentlich nur eine Konstante kannte — den slowakischen Nationalismus — floßen weiterhin reichlich Gelder in die Slowakei. Darüber hinaus erlebte Prag unter seiner Herrschaft eine Invasion slowakischer Funktionäre, die allerdings bald dem genius loci erlagen und von der Nomenklatura in Bratislawa mit Mißtrauen beäugt wurden.

Die Schieflage in der Entwicklung beider Teilrepubliken blieb allerdings erhalten. Sie drückte sich auch im Wachstum der demokratischen Opposition aus. Charta-77-Aktivisten in der Slowakei waren dünn gesät. Und dennoch ging von Bratislawa die erste Massenbewegung gegen das realsozialistische Regime aus — zur Verteidigung der Religionsfreiheit.

Eigentlich hätte die „samtene“ Revolution in den böhmischen Ländern und der Slowakei ideale Voraussetzungen geboten, mit den nur halb erfüllten Versprechungen des Jahres 1968 ernst zu machen. Die zentrale Zwangsklammer KPC war zerstört, in Prag das Bürgerforum an der Macht, in Bratislawa seine Zwillingsschwester „Öffentlichkeit gegen Gewalt“. Warum haben die Demokraten beider Länder Ort und Zeit für die „Begründung der Freiheit“ verpaßt? Eine bittere Frage, denn diese kleine Weltregion mit ihren temperierten Gefühlen und ihrem nüchternen Realismus hätte ein Beispiel abgeben können für das Zusammenleben der Völker. Christian Semler

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