: „Die Straßen gehören den Männern“
Warum sind weibliche Wünsche so gefährlich für den Islam? Ein Workshop über Utopien in Marokko ■ VON UTE SCHEUB
Demokratie heißt: über das eigene Leben zu bestimmen.
(Rachida Ennaifer, Tunesien)
Dreißig Frauen und drei Männer räkeln sich in Kissen und Sofas der marokkanischen Soziologieprofessorin Fatima Mernissi. Auf Einladung der zu Beginn des Golfkriegs gegründeten Frauengruppe „Scheherazade“ sind sie aus Algerien, Tunesien, Marokko, den USA und Deutschland gekommen, um in Fatimas Wohnung in Marokkos Hauptstadt Rabat an einem Workshop teilzunehmen. „We don‘t want to germanize“, sagt Fatima Mernissi, die 52jährige Wanderin zwischen den Kulturen. Auch deshalb ist das Thema breitgefächert: Weibliche Visionen von Demokratie und Selbstbestimmung in der „idealen Stadt“ bis zur UNO und einem „Weltsicherheitsrat der Frauen“.
Der Fall der Mauer, schreibt Fatima Mernissi in ihrem neuen Buch (Die Angst vor der Moderne), war auch in den despotisch regierten Maghreb-Ländern ein starkes Symbol der Hoffnung: Er ließ „mitten in die alten Stadtzentren auch ein neues Wort platzen, das ebenso gefährlich war wie alle Atombomben zusammengenommen: Transparenz.“ „Allah! Die Deutschen fühlen wie wir. Sie lieben ihre ärmeren Brüder und befreien sie!“ zitiert sie Ali, einen Händler im Suq von Rabat. Doch dann kam der Golfkrieg. Marokkos König Hassan II. schickte 2.000 Soldaten an die Front. Im Namen der Demokratie wurde getötet. „Wir wurden nicht gefragt!“ riefen Hunderttausende im Februar 1991 bei der größten Demonstration seit der Unabhängigkeit in Rabat. „Unsere Stimmen werden nicht gehört“: Das war die gemeinsame Erfahrung der deutschen Friedensbewegung und der DemonstrantInnen im Maghreb. Der Scheherazade-Aufruf zu einem weltweiten Plebiszit gegen den Krieg, der von Fatima Mernissi, Rachida Ennaifer, Dalila Morsly, Emily Nasrallah und vielen anderen arabischen Autorinnen unterzeichnet wurde, versuchte einen Skandal zu politisieren: daß ihnen die existentiellste aller Fragen — die von Leben oder Tod, wirklicher Demokratie und Eigenbestimmung — entzogen ist. Nicht nur der islamische Fundamentalismus, auch die Demokratiebewegung in Marokko und Tunesien erhielten im Gefolge des Golfkriegs Aufschwung — unüberhörbar für die Herrscher, die sich die Loyalität mit kleinen demokratischen Zugeständnissen zu erkaufen suchten.
Schleier verschließen die Münder der Frauen
Da ist zum Beispiel das marokkanische Familienrecht, das nach der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahre 1956 erlassen wurde und nun nach den Parlamentswahlen im Oktober geändert werden soll. Bisher steht jede Frau von Geburt bis zum Tod unter männlicher Vormundschaft. Ob eine Frau heiraten oder einen Paß beantragen oder zur Arbeit gehen will: Immer bedarf sie der Einwilligung von Vater, Bruder oder Ehemann. Wenn die nicht mehr leben, kann auch der 14jährige Sohn oder ein Richter den Vormund spielen; eine Mutter darf niemals der Vormund ihrer Kinder sein. Vor- Mund: Den Frauen wird der Mund durch den Schleier verschlossen und durch einen fremden männlichen ersetzt. Auch wenn sie, wie die Mehrheit der städtischen Frauen von Rabat, keinen Schleier tragen.
Aber die Männerwelt hat nicht mit solch starken und zähen Frauen wie der Dozentin Fatima Zahra gerechnet, die auch am Workshop teilnahm. Sie war die erste in ihrem Dorf, die sich einen Grundschulabschluß erkämpfte, Aktivistin beim Journal '8.März‘, der 1983 gegründeten ersten feministischen Zeitschrift im Maghreb, und der Frauenorganisation „Union d'Action Feminine“ (UAF), die inzwischen beinahe eine Million Unterschriften für die Änderung des Familienrechts gesammelt hat. Ein unglaublicher Kraftakt in einem ländlich geprägten Staat wie Marokko, in dem zwei Drittel der rund 30 Millionen Einwohner Analphabeten sind. „Marokko ist das erste Land, wo Frauen sich öffentlich gegen die Scharia wenden“, sagt Fatima. Der hohe Preis dafür: Todesdrohungen aus den Reihen der Fundamentalisten.
Aber ist denn das Familienrecht, das die Polygamie noch immer erlaubt, das dem Mann die Scheidung einfach und der Frau schwer macht, das durch den männlichen Vormund gestiftete Zwangsehen ermöglicht, ist dieses Gesetz das einzig mögliche „islamische“? Nein, sagt die UAF- Vizepräsidentin Alawi. „Der Islam hat eine Tradition von Gerechtigkeit und Gleichheit. Das ist alles eine Frage der Interpretation.“ Die Frau mit den grauen Locken war eine der ersten Feministinnen in Marokko und die erste Frau überhaupt an der Universität. Wie Fatima Mernissi, so ist auch sie um des kulturellen Überlebens willen zur Islam-Spezialistin geworden, die die verschütteten liberalen Traditionen des Islam ausgräbt. Eine Solidaritätsresolution soll bald kursieren, mit der AusländerInnen signalisieren können, daß sie die Entwicklung der Frauenrechte in Marokko verfolgen.
In Algerien stellen sich genau die gleichen Probleme noch verschärft. „Das Leben dort wird immer schwieriger“, sagt Dalila Morsly, eine 49jährige Linguistik-Professorin. Unverschleierte und berufstätige Frauen wie sie laufen ständig Gefahr, körperlich angegriffen zu werden, denn die Straßen gehören den Männern. An dieser Entwicklung hat die „sozialistische“ FLN Mitschuld; sie hat unter ihrer Alleinherrschaft 1984 ein ähnliches Familienrecht wie Marokko verabschiedet.
Nur die intellektuellen und bürgerlichen Frauen haben noch schwache Möglichkeiten, sich nicht den Mund verbieten zu lassen. Die Professorin Dalila Morsly und ihr Mann, die Lehrerinnen Lallia Benaissa und Djoher Amhis, die Dozentinnen Assia Kacedali und Soumya Ammar, die Schriftstellerin Aicha Bouabaci erzählen von ihrer „Gruppe Aischa“, so benannt nach der selbstbewußten Ehefrau Mohammeds. Ihre Gruppe, sagt Dalila, sei ein Ort, „wo Frauen sich ausdrücken können“. „Bei uns spricht die Frau nicht“, faßt Djoher zusammen, „sie schreibt auch nicht. Denn das könnte ein Mittel des Austauschs mit der Welt sein. Oder sich um Sex drehen. Wenn die Frauen die Gesellschaft ändern wollen, müssen sie zuerst sich selbst ändern.“
Vor allem auf dem Land führen Frauen ein elendes Leben als Arbeitstiere, als Leibeigene der männlichen Familienmitglieder, als Analphabetinnen. 95 Prozent der Frauen, aber „nur“ 68 Prozent der Männer in ländlichen Gebieten haben nie Lesen und Schreiben gelernt, berichtet die Marokkanerin Aicha Bouabaci, Parteiaktivistin, Bildungsexpertin und Buchautorin. In den Städten können 31 Prozent der Männer und 57 Prozent der Frauen nicht lesen. Und das Stadt-Land-Gefälle wird immer größer: Während in den Cities die Bildungsrate ansteigt, werden immer mehr Dorfklassen geschlossen, da vor allem die Mädchen schon sehr früh im Haushalt, in der Landwirtschaft oder der Teppichknüpferei arbeiten müssen.
Mauern um Slums, Mauern um Residenzen
Statt Bildung wird der Körper dressiert; „Erziehung zur Scham“ heißt das zentrale Prinzip. „Schon früh werden ihre Gesten kontrolliert, ihre Worte überwacht, ihre Wünsche zurückgedrängt“, sagt Bouabaci. Jungen dürfen draußen spielen, Mädchen meist nur drinnen. „Sie existieren nur in der und für die Familie, außerhalb haben sie keine Identität.“ Wenn sie zu menstruieren beginnen, werden sie weggesperrt: das Blut, so wird kollektiv phantasiert, entstamme einem „verletzten Körper“.
Frauen sind minderwertig und unrein: Konsequent setzt sich dieses Bild in der Politik fort. Nicht nur in der vom König eingesetzten Regierung gibt es, anders als in Tunesien oder Algerien, keine Frau, erzählt Amina Lemrini, 40jährige Dozentin und Präsidentin der 1985 gegründeten „Association Democratique des Femmes du Maroc“ (ADFM). Auch im konservativ beherrschten Parlament sitzt keine einzige. Und das, obwohl Marokkos Frauen die sichtbarsten in der arabischen Welt sind — rund 30 Prozent von ihnen, deutlich mehr als in Tunesien und Algerien, sind berufstätig. Ihre Organisation kämpft deshalb gegen jede Art der Diskriminierung und für Frauenquoten in Parlament und politischen Ämtern. Sie sammelt Unterschriften für die Änderung des Familienrechts, und hat ein „Collectif 1995 Maghreb Égalité“ gegründet, das mit Blick auf die nächste UN-Frauenkonferenz 1995 in Peking Weißbücher zur Lage der Frauen und ein alternatives Familienrecht für den gesamten Maghreb erstellen will.
Die Frauenorganisationen, die sich als einzige auch um die Alphabetisierung erwachsener Frauen kümmern, haben große Geldsorgen, auch Kongresse sind schwer zu finanzieren. Diesmal ist es Scheherazade, die diese — vor wenigen Jahren wegen geschlossener Grenzen noch unmögliche — Zusammenkunft auf maghrebinischer Ebene ermöglicht. Aber: „Geld ist ein großes arabisches Tabu“, sagt Fatima Mernissi.
Die Kluft zwischen den verarmten und arbeitslosen Massen und der Oberschicht darf nicht sichtbar werden. Mauern umgeben die Slums und Barackensiedlungen am Rand der Städte, Mauern umgeben die Residenzen des Königs und seiner Familie. Mauern des Schweigens schützen ihn und seine Untergebenen, die die allmächtige Holding „Omnium Nord-Africain“ (ONA) und seine zehn Lebensmittelgruppen, Banken und Versicherungen, sechs Minengesellschaften, zwei Tourismusunternehmen und Fabriken kontrollieren. Hassan II., weltliches und religiöses Oberhaupt zugleich, ist unantastbar: Auf Majestätskritik steht Gefängnisstrafe. Auch die Knäste, in denen laut amnesty international (ai) seit 30 Jahren Hunderte politischer Gefangener gefoltert werden, unterstehen der Diskretion. „Jeder Staatschef hat seinen geheimen Garten“, sagte der König 1990 — und warf ai- Delegierte aus dem Land.
„Das Tabu muß gebrochen und das Leben erotisiert werden“, träumt Amal Ben Aba, Journalistin und Aktivistin der „Association Femmes Tunisiennes Recherche et Developpement“. Das Tabu weiblichen Begehrens und die Entwertung der Weiblichkeit, findet sie, „machen das Leben in islamischen Ländern so triste“. Ein Buch über weibliche Utopieentwürfe wollen die Frauen herausbringen, aber Djoher, die Algerierin, warnt: Die Sexualität dürfe nicht völlig offen thematisiert werden. „Die Fundamentalisten werden uns noch mehr angreifen und behaupten, wir Frauen wollten alle vier Männer haben.“
Der Schleier spaltet die arabische Welt
Warum sind gerade die weiblichen Wünsche so gefährlich für die islamische Welt? Fatima Mernissi macht immer wieder darauf aufmerksam, daß Mohammed sehr wohl um die große sexuelle Potenz der Frauen wußte. Der Schleier senkte sich auf die arabischen Frauen, um ihre Männer vor ihrer Verführungskraft zu schützen und die hudud, die unverrückbaren Grenzen der islamischen Gemeinschaft, zu bewahren — mit dem Ergebnis, daß die gesamte weibliche Ausdruckskraft noch gründlicher unterdrückt wurde als im sinnesfeindlichen Christentum. Die Tragödie des Islam: Die Angst vor dem Überschreiten der hudud formt die Menschen zu Zwangscharakteren wie Khomeini, sie zwingt sie in den (Koran-)Schulen zu sturem Auswendiglernen statt zum Problemelösen, sie verbietet ihnen religiöse Darstellungen in Bildern und jede Phantasie. Die arabische Welt, erklärte Fatima Mernissi, werde durch den Schleier, die Mauer, die Grenze geteilt. Darunter die Frauen, Natur, Unordnung, darüber die Ordnung, Kultur, Vernunft und Autorität. Die Frauen haben begonnen, die Schleier zu lüften. Ein gefährliches Spiel.
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