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EIN WÜRSTCHEN IST EINE PERSÖNLICHE ANGELEGENHEIT Von Ralf Sotscheck

Das Würstchen, das mir der Wirt in der Liverpooler Pension zum Frühstück vorsetzte, erkannte ich auf den ersten Blick: Es war dasselbe, das er mir bereits an den beiden Tagen zuvor serviert hatte. Inzwischen war es etwas dunkler und verschrumpelter, hatte jedoch noch immer den charakteristischen roten Fleck von unbekannter Herkunft. „Ich will das verdammte Würstchen auch heute nicht“, sagte ich zum Wirt. Er betrachtete mich ungläubig und meinte: „Englische Würstchen sind die besten. Sie sind sehr nahrhaft.“ Das war natürlich gelogen.

Das englische Frühstück, zu dem neben Würstchen auch ein Spiegelei, gebratener Schinken und im Extremfall gebratenes Sodabrot gehört, ist ein Großangriff auf die Leber. Genauso gut kann man einen Viertelliter Wodka auf nüchternen Magen nehmen. Doch die EngländerInnen schwören auf die elastische Ware, die in rohem Zustand wie ein mit Sägemehl gefülltes Kondom aussieht. Vor kurzem fand sogar ein großes Fry-Off in der Londoner Butcher's Hall statt, um das „englische Volkswürstchen Nummer Eins“ zu ermitteln. Von den 138 angemeldeten Variationen wurden 115 jedoch bereits in der Vorrunde eliminiert, nur 23 kamen ins Halbfinale. Eine Jury, der auch Nicholas Soames vom Ernährungsministerium angehörte, mußte sich durch diesen Wurstberg fressen, um die Zahl auf sechs Finalteilnehmer zu reduzieren. Die Jury fällte zum Teil vernichtende Urteile: „Eindeutig eine ausländische Wurst, die mit Weingummi injiziert wurde“, machte Jury-Mitglied Bob Mortimer einem gebratenen Halbfinalisten den Garaus. Sein Kollege Alan Freeman hatte mehr Glück: „Das ist die Wurst, mit der man sein Leben verbringen kann“, sinnierte er und häufte sogleich drei weitere Exemplare auf seinen Teller. Zum Volkswürstchen wurde schließlich das „Country-Fayre-Schweinswürstchen mit Schnittlauch“ erkoren.

Wie kann man diesen kulinarischen Alptraum überhaupt bewerten? Wurstexperte Matthew Fort behauptet: „Ein Würstchen ist eine persönliche Angelegenheit.“ Möglich, doch objektiv gesehen ist ein Würstchen fader als das andere — genauso gut könnte man einen Bierdeckel mit viel Salz zu sich nehmen. Dennoch vergab die Jury bis zu zehn Punkte für den Geschmack. Weitere zehn Punkte konnte man für die Textur gewinnen. Die äußere Erscheinung zählte dagegen nur fünf Punkte. Kein Wunder, ist der erbärmliche Anblick doch bei allen gleich — es sei denn, sie unterscheiden sich durch einen roten Fleck, wie mein Liverpooler Würstchen. Es gibt strenge Regeln, wie die schlaffe Ware zu behandeln ist. Anpieken ist verpönt. Statt dessen muß das Würstchen vorsichtig gebraten werden, damit es sich nicht wie ein Wurm zusammenrollt oder gar platzt. Erst wenn es dunkelbraun und leicht angekohlt ist, darf es serviert werden. Staatssekretär Soames gab der Bevölkerung beim Londoner Fry-Off einen fundamentalen Ernährungstip: „Der Wurstzipfel muß immer mitgegessen werden.“ Laut Matthew Fort gibt es für Würstchen verschiedene Verwendungsmöglichkeiten. So veröffentlichte er im Guardian ein Rezept für einen Knoblauchkuchen mit Würstchen und Broccoli. God save England. Außerdem behauptet er, daß zu der gebratenen Geschmacklosigkeit nur bestimmte Weine passen: „Ein großartiges Würstchen verdient einen großartigen Wein“, heißt Forts Motto. Recht hat er: Nach zwei, drei Flaschen ist es ohnehin völlig wurscht, was man ißt.

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