: Corinas Bauch gehört der Nation
US-amerikanischer Familienstreit und dessen Schlichtung in Zeiten des Wahlkampfes ■ Aus Washington Andrea Böhm
Clarice zeigt erste Anzeichen von Verweichlichung. Das passiert alle vier Jahre wieder — zur Wahlkampfzeit. Dann zeigt die „Politik-finde- ich-zum-Kotzen“-Fassade deutliche Risse. Neulich bekam sie sogar Gänsehaut, als Aretha Franklin beim Parteitag der Demokraten die Nationalhymne gesungen hat. Inzwischen ist der Prozeß so weit fortgeschritten, daß meine Freundin Clarice Mitleid mit dem politischen Gegner hat — genauer gesagt, mit dessen Kindern. Kinder können ja bekanntlich nichts für ihre Eltern. Weil ich sie daraufhin als „sentimental“ beschimpfte, hat Clarice mir eine Standpauke gehalten — seitdem machen wir uns gemeinsam Sorgen um Corina.
Corina ist 13 Jahre alt und die Tochter von Dan und Marilyn Quayle. Dad macht zur Zeit Wahlkampf — eine Art Kreuzzug für George Bush und gegen solch unchristliche Erscheinungen wie Homosexualität, vorehelicher Sex und Abtreibung. Das verlief bislang ohne die rhetorischen Pannen, mit denen sich Dan Quayle einen Namen gemacht hat. Seinem sonst so unberechenbaren Mundwerk entfuhr nichts, was nicht vorher in Meinungsumfragen wählerverträglich gemacht worden war. Bis ihn Larry King vor ein paar Tagen in seiner CNN-Talk-Show fragte, was er denn machen würde, sollte sich seine Tochter für eine Abtreibung entscheiden. Schön fände er das nicht, sprach der Vizepräsident, „aber ich würde sie unterstützen“. Clarice hatte sich zwei Stunden nach der Show noch nicht erholt. „Entweder fängt der Mann an zu denken“, sagte sie, „oder er hat eine Affäre mit einer Feministin.“
Ich kenne keine Feministin mit solch übermenschlichem Missionseifer — und selbst wenn, die Früchte ihrer Arbeit machte sofort Marilyn Quayle zunichte. Vor der Presse des Landes verkündete sie: „Wenn unsere Tochter schwanger wird, kriegt sie das Kind.“ Die arme Corina dürfte zu Hause vor dem Fernseher gesessen und sich unwillkürlich an den Bauch gefaßt haben — vorausgesetzt, ihre Eltern haben ihr schon mal erklärt, was „schwanger“ heißt.
Stell dir mal vor, empört sich Clarice, du kommst mit zarten 13 Jahren eines Morgens in die Schule — und die ganze Klasse hat am Abend vor der Glotze gesehen, wie sich deine Eltern über deine Gebärmutter streiten. Denen sollte man höchstens das Sorgerecht für einen Hamster zugestehen, aber nicht für Kinder. Inzwischen hat es sich auch Dan Quayle anders überlegt. Nach seinem Auftritt bei Larry King haben so viele Pfarrer und andere Kämpfer für das ungeborene Leben aufgeheult, daß der Vizepräsident sich doch lieber der Meinung seiner Frau anschloß.
Clarice wird morgen einen Hamster kaufen.
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