: Hexenverbrennung in Berlin
■ Mittelalter-Spektakel: Frauenprotest gegen die Verharmlosung in Volksfestmanier
Berlin. Tatort: Berlin, Potsdamer Platz. Eine Frau wird durch die Menschenmenge zum Scheiterhaufen geführt. Manche schauen irritiert, andere brüllen »Verbrennt sie!«. Wir schreiben das Jahr 1992. Die Stimmung ist gut.
Freizeitkultur ist angesagt. Und wer in diesem Sommer über das Brachgelände am Ende der Potsdamer Straße streift, bekommt gleich zwei Spektakel geboten. Rechterhand springen Todessehnsüchtige für 100 Mark vom Baukran und baumeln sekundenlang am Gummiband. Linkerhand bietet sich den BerlintouristInnen hinter hohen Palisaden ein »mittelalterliches Dorf«. Allabendlich findet hier das Mittelalter-Spektakel in »Finsterer Nacht« statt. Plakate künden von Gauklern und echten Jungfrauen im Badehaus, von Feuerschluckern und nachgestellten Hinrichtungsszenen. Für Kinder unter zwölf Jahren ist der Einlaß vorsorglich verboten. Allabendlich gehört zum Spektakel auch eine Hexenverbrennung.
Am Mittwoch abend protestierten etwa zwanzig Frauen mit einer kurzfristigen Aktion gegen diese Verharmlosung von Geschichte. Vor dem wartenden Publikum entrollten sie ein Transparent und blockierten für kurze Zeit den Eingang. Unter dem Motto: »Hexenverbrennung ist Frauenmassenmord«, erinnerten sie an die Millionen von Frauen, die vom Mittelalter bis weit in die Neuzeit Opfer des Hexenwahns wurden. Doch das Publikum reagierte in der Mehrzahl mit Gelächter und Aggression. Ein Bierbäuchiger skandierte sogleich die Forderung »Verbrennt sie!«. Daß ein Pogrom gegen Frauen heute derart verniedlicht zur allgemeinen Volksbelustigung beiträgt, stieß auf taube Ohren. Immerhin waren alle gekommen, um sich einen netten Abend zu machen. Und eine Schaustellerin verwies darauf, daß »die Hexe doch schließlich von einer Frau gerettet« würde. Mit einer Ladung Wasser versuchten die SchaustellerInnen den Eingang freizumachen. Angeblich soll von seiten der Frauen mit Reizgas reagiert worden sein. Kurz nach acht Uhr gaben sie den Eingang wieder frei, und das Publikum wandte sich unbeschwert den Darbietungen vom »grausamen« Mittelalter zu.
Über den Nutzen solcher Aktionen läßt sich streiten. Das vergnügungswillige Publikum und die SchaustellerInnen zeigten sich kaum beeindruckt. Die Hexe mache es seit drei Jahren, und sie mache es gern, lautete es unisono. flo
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