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Brandige Wunden unterm Verband

■ In Polen wie in Ungarn verdanken sich die offen antisemitischen Positionen einer Angst vor den sozialen und kulturellen Folgen westlicher „Normalität“

Kaum ist der Schmutzverband abgelöst, kommen die brandigen Wunden zum Vorschein: Nationalitätenkonflikte, soziale Wut, ethnischer Haß. Andras Kovacs, langjähriger Aktivist der Demokratischen Opposition und Antisemitismus-Forscher aus Budapest, greift zu drastischen Metaphern, um das Revival der Judenfeindschaft in Ostmitteleuropa in den richtigen zeitgeschichtlichen Kontext zu stellen. Aber welchen Stellenwert hat der Antisemitismus innerhalb der pathologischen Reaktionsformen auf die Krisen des „Übergangs“ zu Gesellschaften des westlichen Typus? Erfreulicherweise hat die Antisemitismus-Forschung im ehemals sowjetischen Machtbereich rasch das westliche Plateau erreicht: alles ist umstritten — die Grundkategorien, der historische Befund, die aktuelle Analyse.

Eine ebenso symptomatische wie spannende Auseinandersetzung spielte sich auf dem Kongreß zwischen empirischen Soziologen und Forschern ab, die eher in geistesgeschichtlichen beziehungsweise psychologischen Kategorien denken. Erstere neigten hinsichtlich der antisemitischen Drohung eher zu optimistischen, letztere zu düsteren Einschätzungen. Die Differenz zeigte sich exemplarisch in der unterschiedlichen Antwort auf die Frage, welche Rolle der „christliche“ Judenhaß auf heutige antisemitische Einstellungen hat. Der Empiriker Irineusz Krzeminski: Überhaupt keinen. Die Historikerin Alina Cala: Einen konstitutiven. Cala begreift den polnischen „Antijudaismus ohne Juden“ als einen in der katholischen Tradition tiefverwurzelten kulturellen Reflex, der allerdings seine historischen Konnotationen, sein „Gedächtnis“ verloren hat. Ihren Forschungen zufolge wird heute der Begriff „Jude“ — als Synonym der Verantwortung für alles Schlechte — fast schrankenlos verwandt: Von Fußballfans für das verhaßte Gegenteam, von Schülern für den ungeliebten Klassenkameraden, für alle Leute, die sich ungewohnt kleiden und abweichend von der Norm verhalten. Vor allem aber für Politiker, die sich weigern, antisemitische Erklärungen abzugeben. Das sind die Kryptojudaisten, zu denen die extremen Antisemiten auch seine Heiligkeit den Papst zählen. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchungen Krzeminskis legen nahe, das Verhältnis von Polen und Juden sehr stark unter dem Gesichtspunkt der „nationalen“ Rivalität zu sehen, auch und gerade bezüglich der Frage, welches Volk mehr gelitten hat. Nach wie vor weigert sich ein Großteil der Befragten, irgendeine Schuld von Polen gegenüber Juden zuzugestehen. In den gegenüber Juden allgemein geäußerten Vorurteilen — sie würden die Weltfinanz dominieren, sie würden in jeder Situation nach Vorherrschaft streben, ohne sich zu erkennen zu geben, sie würden zum Schaden Dritter stets zusammenhalten — äußert sich gleichzeitig eine gefährliche Tendenz: die Abkehr von der Normalität westlicher Verhältnisse. Polen sollen Polen bleiben, Fabriken sollen weder von den Deutschen noch von Juden, noch von Russen gekauft werden können — nur die Amerikaner machen da eine Ausnahme.

Auch in Ungarn verdanken sich die offen antisemitischen Positionen, die auf dem rechten Flügel des regierenden Ungarischen Demokratischen Forums vertreten werden, der Angst vor den nivellierenden westlichen Verhältnissen. Für Istvan Csoori, den führenden Intellektuellen dieser Strömung, ist das Ungarntum in Gefahr, den „umgekehrten Assimilationsbestrebungen“ der Juden zum Opfer zu fallen. Andras Kovacs sieht die Gefahr, daß dieser ideologische Komplex gesellschaftliche Schubkraft erhalten könne. Um eine solche mögliche Wirkung zu testen, hat er eine Umfrage — basierend auf längeren Einzelinterviews — angeregt. Ergebnisse der Probebefragung: Auch nach über hundertjähriger Assimilation hielten die Befragten die ungarischen Juden für eine gesonderte Gruppe und glaubten, sie aufgrund besonderer körperlicher Merkmale erkennen zu können. Bei ihren Antworten zeigte sich eine effektive Abschottung vor dem Antisemitismus- Vorwurf. Sie hielten selbst eindeutige Positionen, so zum Beispiel die der Ablehnung von Eheschließungen zwischen UngarInnen und JüdInnen nicht für antisemitisch. Christian Semler

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