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Zwei Briefe an Lawrentij Berija

■ Um die Verurteilung ihres Mannes Sergej Efron abzuwenden, appelliert Marina Zwetajewa „an die Gerechtigkeit"

Golyzino, Weißrussische Eisenbahnlinie, Schriftsteller-Erholungsheim, den 23. Dezember 1939

Genosse Berija,

ich wende mich an Sie in der Sache meines Mannes, Sergej Jakowlewitsch Efron-Andrejew1, und meiner Tochter, Ariadna Sergejewna Efron, die verhaftet wurden; die Tochter — am 27. August, und mein Mann — am 10. Oktober 1939.

Aber bevor ich von ihnen spreche, muß ich Ihnen einige Worte über mich sagen.

Ich bin Schriftstellerin, Marina Iwanowna Zwetajewa. 1922 reiste ich mit sowjetischem Paß ins Ausland, wo ich — in der Tschechei und in Frankreich — bis zum Juni 1939, d.h. 17 Jahre lang lebte. Am politischen Leben der Emigration habe ich in keiner Weise teilgenommen — ich lebte für die Familie und mein Schreiben. Ich habe vor allem mit den Zeitschriften Die Freiheit Rußlands und Zeitgenössische Annalen zusammengearbeitet. Eine Zeitlang publizierte ich in der Zeitung Neueste Nachrichten, wurde von dort aber verjagt, weil ich Majakowskij offen willkommen geheißen hatte. Überhaupt war ich in der Emigration eine Einzelgängerin (...). 1936 habe ich den ganzen Winter über russische Revolutionslieder, alte und neue, für einen französischen Revolutionschor (Chorale Révolutionnaire) übersetzt, darunter den Trauermarsch „Ihr seid gefallen im Schicksalskampf“ und von den sowjetischen das Lied aus „Die fröhlichen Jungs, Poljuschko“ und andere.2 Meine Lieder wurden gesungen.

1937 erneuerte ich meine sowjetische Staatsbürgerschaft, und im Juni 1939 erhielt ich die Erlaubnis, in die Sowjetunion zurückzukehren. Ich tat es gemeinsam mit meinem 14jährigen Sohn Georgij3 am 18. Juni 1939 auf dem Schiff „Marija Uljanowa“, das Spanienkämpfer an Bord hatte.

Gründe für meine Rückkehr in die Heimat sind das leidenschaftliche Drängen meiner ganzen Familie dorthin: meines Mannes, Sergej Efron, meiner Tochter, Ariadna Efron (sie fuhr als erste, im März 1937), und meines Sohnes Georgij, der im Ausland geboren wurde, aber seit seinen frühen Jahren leidenschaftlich von der Sowjetunion träumte. Der Wunsch, ihm eine Heimat und eine Zukunft zu geben. Der Wunsch, zu Hause zu arbeiten. Und die völlige Einsamkeit in der Emigration, mit der mich schon seit langem nichts mehr verband. (...)

Falls es nötig ist, etwas über die Herkunft zu sagen: Ich bin die Tochter des verdienten Professors der Universität Moskau, Iwan Wladimirowitsch Zwetajew, eines Philologen von europäischem Rang (er entdeckte einen Dialekt der Antike, sein Werk sind die „Oskischen Inschriften“), des Begründers und Sammlers des Museums für bildende Kunst. (...)

Meine Mutter Marija Alexandrowna Zwetajewa, geb. Meyn, war eine hervorragende Musikerin und erste Gehilfin meines Vaters bei der Schaffung des Museums. Sie starb sehr früh.

Soviel über mich.

Jetzt zu meinem Mann, Sergej Efron.

Sergej Jakowlewitsch Efron ist der Sohn der bekannten Narodowolzin Jelisaweta Petrowna Durnowo (unter den Narodowolzen: „Lisa Durnowo“4) sowie des Narodowolzen Jakow Konstantinowitsch Efron5.

(...)

Sergej Efrons Kindheit verläuft in einem Haus von Revolutionären, mit ständigen Hausdurchsuchungen und Verhaftungen. Fast die ganze Familie ist im Gefängnis: die Mutter in der Peter-und-Pauls-Festung, die älteren Kinder Pjotr, Anna, Jelisaweta und Vera Efron6 in verschiedenen Gefängnissen. (...) 1908 emigriert Jelisaweta Petrowna Efron-Durnowo, da ihr lebenslange Festungshaft droht, mit ihrem jüngsten Sohn. Sie stirbt auf tragische Weise 1909 in Paris: Ihr 13jähriger Sohn7, den die Klassenkameraden in der Schule gehänselt hatten, begeht Selbstmord, danach auch sie. Über ihren Tod berichtet die damalige Humanité.

Ich begegne Sergej Efron 1911. Wir sind 17 und 18 Jahre alt. Er ist tuberkulosekrank, erschlagen vom tragischen Ende seiner Mutter und des Bruders und über die Maßen ernst für sein Alter. Ich fasse sofort den Entschluß, mich niemals, was auch geschehen mag, von ihm zu trennen und heirate ihn im Januar 1912. 1913 schreibt sich Sergej Efron an der Universität Moskau für Philologie ein. Aber der Krieg beginnt, und er geht als Sanitäter an die Front. Im Oktober 1917, als er gerade die Fähnrichsausbildung in Peterhof absolviert hat, kämpft er in den Reihen der Weißen in Moskau und fährt sofort nach Nowotscherkassk, wo er als einer der ersten von 200 Männern eintrifft. Die ganze Freiwilligen-Bewegung über (von 1917 bis 1920) ist er ununterbrochen an der Front, niemals im Stab. Zweimal wird er verwundet.

(...)

Doch wie konnte ein Sohn der Narodowolzin Lisa Durnowo zu den Weißen geraten, und nicht zu den Roten? — Sergej Efron hat das für den entscheidenden verhängnisvollen Fehler seines Lebens gehalten. (...) In der Freiwilligen-Bewegung sah er die Rettung Rußlands und die Wahrheit. Als er den Glauben daran verloren hatte, sagte er sich ganz und gar von ihr los und sah nie wieder in diese Richtung zurück.

Doch ich kehre zurück zu seiner Biographie. Nach der Weißen Armee — Hunger in Gallipoli und Konstantinopel und, 1922, Übersiedlung in die Tschechei, nach Prag, wo er sich an der Universität einschreibt, um die historisch-philologische Fakultät zu beenden. 1923 ruft er die Studenten-Zeitschrift Auf eigenen Wegen ins Leben (...) und gründet den demokratischen Studentenbund, im Gegensatz zu den schon vorhandenen monarchistischen. In seiner Zeitschrift druckt er als erster von allen in der Emigration (1924) sowjetische Prosa ab. Von diesem Augenblick an nimmt seine „Linkswendung“ unentwegt ihren Lauf. Nach dem Umzug 1925 nach Paris schließt er sich der Gruppe der Eurasier an und wird einer der Herausgeber der Zeitschrift Werstpfähle, von der sich die ganze Emigration abwendet. Wenn ich nicht irre, wird Sergej Efron schon 1927 ein „Bolschewik“ genannt. Weiter — immer mehr. Nach den Werstpfählen die Zeitung Eurasien (in ihr habe ich Majakowskij willkommen geheißen, der damals in Paris auftrat9, von dem die Emigration sagt, sie betreibe offene bolschewistische Propaganda). Die Eurasier spalten sich — in Linke und Rechte. Die Linken, geführt von Sergej Efron, hören bald auf zu existieren, nachdem sie sich mit dem „Bund der Heimkehrer“ zusammengeschlossen haben. Wann genau Sergej Efron mit der aktiven sowjetischen Arbeit begann, weiß ich nicht, aber das muß aus seinen vorausgegangenen Befragungen ersichtlich sein. Ich glaube, es war um 1930. Aber was ich zuverlässig wußte und weiß, das war sein leidenschaftlicher und ständiger Traum von der Sowjetunion und von dem Dienst für sie. Wie freute er sich, wenn er in der Zeitung von der neuesten sowjetischen Errungenschaft las; beim geringsten ökonomischen Erfolg — wie strahlte er da! (...).

Obwohl ein kranker Mensch (tuberkulös, mit einer Erkrankung der Leber), ging er frühmorgens aus dem Haus und kehrte spät abends wieder. Der Mensch verbrannte — vor meinen Augen. (...) Ein anderes Thema als die Sowjetunion gab es für ihn nicht. Ohne Einzelheiten seiner Tätigkeit zu kennen, kenne ich das Leben seiner Seele Tag für Tag. All das geschah vor meinen Augen — die ganze Neugeburt dieses Menschen.

Zur Qualität und Quantität seiner sowjetischen Tätigkeit kann ich den Ausruf eines Pariser Untersuchungsrichters anführen, der mich nach Sergej Efrons Abreise verhörte: „Mais Monsieur Efron menait une activité soviétique foudroyante!“ („Aber Herr Efron hat ja eine ganz unglaubliche sowjetische Aktivität entwickelt!“) Der Untersuchungsrichter sagte das über einer Mappe mit seinem Fall; er kannte diese Angelegenheiten besser als ich (ich wußte nur von dem „Bund der Heimkehrer“ und von Spanien). Aber was ich kannte und kenne, das ist seine Selbstlosigkeit und Ergebenheit. Sich nicht ganz einer Sache hingeben, konnte dieser Mensch von Natur aus nicht.

Alles endete unerwartet. Am 10.Oktober 1937 reiste Sergej Efron überstürzt in die Sowjetunion ab. Und am 22. erschien die Polizei bei mir zu einer Hausdurchsuchung und nahm mich und meinen 14jährigen Sohn in die Pariser Präfektur mit, wo man uns den ganzen Tag dabehielt. Ich sagte dem Untersuchungsrichter alles, was ich wußte, und zwar: daß er der nobelste und uneigennützigste Mensch der Welt sei, daß er seine Heimat leidenschaftlich liebe, daß es kein Verbrechen sei, für ein republikanisches Spanien zu arbeiten, daß ich ihn seit dem Jahr 1911 und bis 1936, d.h. seit 26 Jahren kenne und weiter nichts wüßte. Nach einiger Zeit folgte eine zweite Vorladung in die Präfektur. Man legte mir die Kopien von Telegrammen vor, auf denen ich seine Handschrift nicht erkannte10; man entließ mich wieder und ließ mich weiter in Ruhe. (...)

Als ich am 19.Juni 1939 nach fast zweijähriger Trennung die Datsche in Bolschewo betrat und ihn sah — ich sah einen kranken Menschen. Von seiner Krankheit hatten mir weder er noch die Tochter geschrieben. Eine schwere Herzkrankheit, die ein halbes Jahr nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion festgestellt worden war — eine vegetative Neurose. Ich erfuhr, daß er diese beiden Jahre fast durchgehend krank gewesen war und gelegen hatte. Aber mit unserer Ankunft lebte er wieder auf — in den ersten beiden Monaten hatte er keine einzige Attacke, was beweist, daß seine Herzkrankheit zu einem großen Teil hervorgerufen war durch seine Sehnsucht nach uns und die Angst, daß ein möglicherweise eintretender Krieg uns für immer trennen würde... Er stand wieder auf, fing an, von Arbeit zu träumen, ohne die er umkommt, begann, sich schon mit jemandem von seiner Dienststelle abzusprechen und in die Stadt zu fahren... Alle sagten, er sei tatsächlich wiederauferstanden...

Und da — am 27.August — die Verhaftung der Tochter.

Nun zur Tochter. Meine Tochter Ariadna Sergejewna Efron fuhr als erste von uns in die Sowjetunion zurück, und zwar am 15.März 1937. Bis dahin war sie ein Jahr lang im „Bund der Heimkehrer“ gewesen. Sie ist eine sehr begabte Künstlerin und Journalistin. Und — ein absolut loyaler Mensch. (...) In der Sowjetunion fühlte sie sich sehr glücklich und hat sich niemals über irgendwelche Schwierigkeiten im Alltagsleben beklagt.

Und gleich nach der Tochter verhaftete man am 10.Oktober 1939, auf den Tag genau zwei Jahre nach seiner Abreise in die Sowjetunion, auch meinen völlig kranken und vom Unglück der Tochter zerquälten Mann.

Meine erste Geldübergabe wurde angenommen: für die Tochter am 7.Dezember, das heißt drei Monate und elf Tage nach ihrer Verhaftung, für meinen Mann am 8.Dezember, das heißt knapp zwei Monate nach seiner Verhaftung.

Am 7.November wurden auf derselben Datsche die Familie Lwow11, unsere Mitbewohner verhaftet. Und mein Sohn und ich blieben ganz allein in der versiegelten Datsche zurück, ohne Brennholz und in schrecklicher Schwermut.

(...) Seit der Verhaftung meines Mannes bin ich völlig mittellos. (...) Während ich noch in Bolschewo wohnte (...), übersetzte ich eine Reihe von Lermontow-Gedichten — für die Revue de Moscou und die Internationale Literatur — ins Französische. Ein Teil davon wurde schon veröffentlicht.

Ich weiß nicht, wessen mein Mann beschuldigt wird. Aber ich weiß, daß er zu keinerlei Verrat, doppeltem Spiel oder Treuebruch fähig ist. Ich kenne ihn — von 1911 bis 1939 — beinahe 30 Jahre. Aber das, was ich von ihm weiß, wußte ich schon vom ersten Tag an: daß er ein Mensch von größter Reinheit, Opferbereitschaft und Verantwortung ist. Dasselbe werden seine Freunde und Feinde über ihn sagen. Selbst in der Emigration, dem allerfeindseligsten Milieu, hat ihn niemand der Bestechlichkeit beschuldigt, und seinen Kommunismus erklärten sie mit „blindem Enthusiasmus“. Sogar die Geheimpolizisten, die bei uns die Hausdurchsuchung durchführten, waren verblüfft von der Armut unserer Wohnung und der Härte seines Bettes („Wie denn, auf diesem Bett hat Herr Efron geschlafen?“), sie sprachen von ihm mit einer gewissen Achtung. Und der Untersuchungsrichter sagte mir einfach: „Herr Efron war ein Enthusiast, aber auch Enthusiasten können sich schließlich irren...

Doch sich hier, in der Sowjetunion, irren, konnte er nicht. Denn die ganzen zwei Jahre seines Hierseins war er krank und ging nirgendwo hin.

Ich schließe mit einem Appell an die Gerechtigkeit. Dieser Mensch hat mit Leib und Seele, Wort und Tat seiner Heimat und der Idee des Kommunismus gedient. Er ist schwer krank. Ich weiß nicht, wieviel er noch zu leben hat, besonders nach solch einer Erschütterung. Es wäre furchtbar, wenn er sterben sollte, ohne für gerechtfertigt unschuldig erklärt worden zu sein.12

Wenn es sich um eine Denunziation handelt, das heißt um gewissenlos und mit böser Absicht zusammengetragenes Material, überprüfen Sie den Denunzianten. Wenn es aber ein Fehler ist, dann flehe ich Sie an, machen Sie ihn wieder gut, bevor es zu spät ist.

Marina Zwetajewa

Dieser und der folgende Brief wurde aus dem Russischen von

Marie-Luise Bott übertragen.

*

Moskau, den 14.Juni 1940

An den Volkskommissar für Innere Angelegenheiten, Gen. L. P. Berija

Verehrter Genosse,

ich wende mich an Sie mit folgender Bitte. Seit dem 27.August 1939 befindet sich meine Tochter Ariadna Sergejewna Efron in Haft, und seit dem 10.Oktober desselben Jahres — mein Mann Sergej Jakowlewitsch Efron (Andrejew).

Nach seiner Verhaftung befand sich Sergej Efron zunächst im Gefängnis des Inneren, dann in der Butyrka, dann in Lefortowo, und heute ist er wieder ins Gefängnis des Inneren überführt worden. Meine Tochter Ariadna Efron war diese ganze Zeit über im Gefängnis des Inneren.

Die Tatsache, daß mein Mann nach längerer Unterbrechung wieder ins Gefängnis des Inneren gebracht wurde, und die lange Dauer der Haft von beiden (Sergej Efron — acht Monate, Ariadna Efron — zehn Monate) lassen, wie mir scheint, darauf schließen, daß die Untersuchung dem Ende zugeht oder vielleicht schon abgeschlossen ist. (...)

Das letzte Mal, als ich Auskunft über den Stand der Ermittlungen einholen wollte (am 5.Juni, auf den Kusnezkij-Brücke 24), gab mir der Mitarbeiter des NKWD das übliche Formular nicht, sondern riet mir, mich an Sie mit der Bitte um eine Besuchserlaubnis zu wenden.

Ich habe Ihnen im Dezember vergangenen Jahres ausführlich über meine Angehörigen und mich geschrieben. Ich erinnere Sie nur daran, daß ich nach zweijähriger Trennung nur sehr kurz mit den meinen zusammen sein konnte: mit meiner Tochter zwei Monate, mit meinem Mann dreieinhalb; daß er schwer krank ist, daß ich 30 Jahre meines Lebens mit ihm zusammengelebt habe und keinem besseren Menschen begegnet bin.

Ich bitte Sie herzlich, verehrter Genosse Berija, wenn nur die geringste Chance besteht, mir das erbetene Wiedersehen zu erlauben.

Marina Zwetajewa

Ich wohne jetzt vorübergehend unter folgender Adresse: Moskau

Herzen-Straße 6, Wohnung 20

(Teleph. K-0-40-13)

Marina Iwanowna Zwetajewa

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