: Keine Alternative zur Aktenöffnung
■ In Hannover diskutierten Historiker, Gauck-Mitarbeiter und Autoren über das Stasi-Erbe
Hannover (taz) — Auf dem 39. Historikertag, der am Wochenende in Hannover zu Ende ging, war der Aufarbeitung der DDR- Geschichte — einem Kapitel „brennender Zeitgeschichte“, wie der Abteilungsleiter der Gauck- Behörde Klaus-Dietmar Henke formulierte — ein eigenes Rundgespräch gewidmet. Mitarbeiter der Gauck-Behörde, der Historiker Hermann Weber und der Schriftsteller Jürgen Fuchs, erörterten, welche Rolle das Informationserbe bei der Aufarbeitung der DDR-Geschichte spielen könnte. Selbst für Historiker, eigentlich geübt in der Bewältigung von Aktenbergen, ist die Situation ungewöhnlich. Der Zusammenbruch der DDR konfrontierte sie mit der einmaligen Chance, weitgehend „ungereinigtes Quellenmaterial“ interpretieren zu können, weil der Staat, der Quellen manipulieren könnte, nicht mehr existiert. Andererseits ist der Umgang mit den Akten aber eine ethische Herausforderung für Historiker, weil der Schutz der persönlichen Daten gewährleistet sein muß.
Wolf Krötke, Theologe an der Berliner Humboldt-Universität, beschrieb die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit als Gratwanderung zwischen dem Informationsanliegen der Opfer und dem Schutz des Individuums. Die Würde der Person sei ihr Anspruch auf ihr eigenes Geheimnis; die Aufgabe von Wissenschaftlern sei es, „handelnde Subjekte“ sichtbar zu machen.
Der Schriftsteller Jürgen Fuchs, selbst Stasi-Opfer, sah trotz der ethischen Problematik keine Alternative: „Wenn wir die Wahrheit über die DDR herausfinden wollen, wenn wir uns wirklich erinnern wollen, brauchen wir die Fakten. Gleichzeitig brauchen wir aber auch Beistand.“ Für die Opfer sei wichtig, die „Struktur der Ungewißheit“ aufzuheben, damit das „vermeintlich Verdeckte“ offengelegt werde. Die Betroffenen, so Fuchs, hätten ein Recht zu erfahren, wer sie bespitzelt habe.
Obwohl das Leben der Menschen in der DDR nicht nur von Politik bestimmt gewesen sei, argumentierte der Historiker Herman Weber, seien die Stasi-Akten eine wichtige Quelle, um Aussagen über den „alltäglichen Stalinismus“ des deutschen Teilstaates zu machen. Außerdem habe die DDR Strukturen hervorgebracht, die auch nach ihrem Zerfall fortbestehen würden. Ein Drittel deutscher Nationalgeschichte seit 1871 sei durch die Planwirtschaft und die totalitäre Diktatur der DDR geprägt worden.
Irene Chaker vom „Unabhängigen Historikerverband“ kritisierte den Geheimnischarakter der Gauck-Behörde. Zwei Drittel aller Mitarbeiter kämen aus dem Westen, engagierte BürgerrechtlerInnen würden oft nicht eingestellt, weil ihnen die formelle Qualifikation fehle. Außerdem, befürchtete die Historikerin, sei nicht gewährleistet, daß aus dem „Herrschaftswissen der Stasi“ nicht das Herrschaftswissen der Bundesrepublik werde. Rüdiger Soldt
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