: Unter Geißeln
Giuseppe Verdis „Don Carlos“ an der Deutschen Oper Berlin, inszeniert von Hugo de Ana ■ Von Niklaus Hablützel
Sieben Fassungen des „Don Carlos“ sind überliefert, während zwanzig Jahren seines Lebens kam Giuseppe Verdi immer wieder auf dieses Werk zurück, strich ganze Szenen, schrieb andere um, übernahm gestrichene Teile dann doch wieder. Für alles lassen sich äußere Umstände nennen — in Paris zum Beispiel, wo 1867 die Uraufführung stattfand, fuhren die letzten Züge der noch ziemlich neuen Eisenbahnen in die Vororte ein halbe Stunde nach Mitternacht: zu früh für Verdis Fünfakter, zumindest dann, wenn er, wie es sich gehörte, erst nach dem Abendessen beginnen sollte. Die Anekdoten sind lächerlich, daß sie zu Revisionsgründen der Partitur wurden, zeigt indessen, wie sehr Verdi, der sich sonst so wenig sagen ließ, die Praxis des Theaters ernst nahm. Und sie zeigen vielleicht noch mehr: Es ist eine Beunruhigung in dieser Musik, die nicht stillgestellt werden darf. Die Dimensionen des Stoffes sprengten die Form, „Don Carlos“, dieses elementare musikalische Drama, ist vollendet in jedem Takt, fertig geworden ist es dennoch nicht; es kann nicht fertig werden, endet mit diesem Schrei der Königin von Spanien, jenem hohen Ton, der den Schlußakkord überragt, zwar die Harmonie abschließt, aber doch einen neuen Horizont aufreißt: keine Dissonanz bloß individuellen Leidens, sondern ein Aspekt des Ganzen, unter dem das Drama neu zu formulieren wäre in dieser letzten Sekunde, bevor der Vorhang fällt.
Der Rang einer Inszenierung ist daran zu messen, ob sie in solchen Momenten extremer Konzentration — und sie finden sich überall in den ungefähr fünf Stunden einer angemessenen Aufführung — die Unrast des Komponierens hört, das nicht Abschließbare, oder ob sie nach handlichen Lösungen sucht, nach Interpretationen, die halbwegs eindeutige Antworten auf beunruhigende Fragen geben. In durchaus konservativem Geist haben Rafael Frübeck de Burgos und sein argentinischer Inszenator Hugo de Ana darauf verzichtet, den „Don Carlos“ in naheliegende aktuelle Kontexte zu stellen. Die spanische Inquisition gleicht keine Sekunde lang der Stasi, Don Carlos und sein Marquis da Posa schmachten nicht in Bautzen, und was ihnen an Freiheit für Flandern im Kopf herumgeht, nun ja, das ist nichts, was sich über Schiller hinaus zu Bärbel Bohley verlängern ließe. In Berlin spielt diese Oper im Spanien des historischen PhilippsII., nämlich in einem abgeschlossenen Bezirk der religiösen Umnachtungen und wahnwitzigen Sadismen. Nicht die Zeitspanne zur Gegenwart wird ausgemessen, sondern die interne Zeit des Werkes, der Abstand zwischen der Pathologie der historischen Figuren und der vernünftigen, formalen Transparenz der Musik, in der ihr Drama formuliert wird.
Aus diesem nur scheinbar bloß ästhetischen Problem heraus gelang so etwas wie ein großer Wurf, mitten hinein außerdem in eine kulturpolitische Situation, die ihresgleichen sucht. Denn Berlin besaß nach dem Mauerfall plötzlich drei Opernhäuser. Das sind eigentlich zwei zuviel für die Stadtkasse, die ja eher leerer wurde. Es sah — und sieht — schlecht aus für den architektonisch nur mäßig gelungenen, westlichen Neubau an der Bismarckstraße, und viel besser im Osten. Knobelsdorffs Klassiker der Deutschen Staatsoper feiert Unter den Linden gerade sein 250jähriges Jubiläum, dort soll nach dem Willen des Senats und wohl auch der demnächst benachbarten Bundesregierung das repräsentative Zentrum des hauptstädtischen Musiktheaters liegen, dort geht Ruth Berghaus' guter Geist des guten Ostens um, der gute Daniel Barenboim dirigiert seit dieser Saison, dort soll sanft renoviert und keineswegs abgewickelt werden. Zurückzustehen hat ausnahmsweise der Westen, in diesem Fall Götz Friedrich und seine Deutsche Oper. Modernes und Experimentelles schien sich da als Spar-Sparte anzubieten, das leichte Fach wiederum schien am besten in die gleichfalls ein bißchen erhaltenswerte Komische Oper zu passen: Sie liegt noch näher am Brandenburger Tor, war freilich unter Harry Kupfers Prägung nicht besonders komisch gewesen.
Lokalpossen also sind zu notieren, und sie wären zu verschweigen, ginge es nicht um Verdi. Sie hätten ihn interessiert, aus ähnlich dummen Gründen hätte er sein Meisterwerk neu eingerichtet, nur damit es auch an diesem Theater bestehen kann. Durchaus folgerichtig hat Frühbeck de Burgos, der damit seinen Einstand als neuer Chefdirigent gab, eine weitere Fassung hergestellt. Sie enthält so ziemlich alles, was überhaupt in einer Aufführung miteinander verträglich ist, insbesondere einen nie aufgeführten Chor der Holzfäller von Fontainebleau, den seit der Mailänder Fassung von 1883 gestrichenen Anfang des dritten Aktes und eine Trauerklage Philipps über den soeben in seinem Auftrag ermordeten Marquis da Posa — ein Zeichen seelischer Verwüstung mehr, das diesen spanischen König zum unauflösbaren Rätsel macht.
Kein Experiment also, sondern möglichst korrekte Rekonstruktion eines Werkes, und gegen erwartbare, weitere Spardrohungen mobilisierte Hugo de Ana als Bühnenbildner und Regisseur in Personalunion die gesamte Macht der Werkstätten. Es fängt sehr harmlos an, nämlich im Wald von Fontainebleau. Holzfäller tragen dekorativ lange Stangen, singen — in Erstaufführung — ihr flüsternd und stockend beginnendes Chorlied. Wir sind in Frankreich, ein junger Edelmann stellt sich vor; pastellfarbene Gazewände deuten einen Wald an, eine Impression nur, eine junge Dame gibt sich kokett, schickt ihre Begleitung weg, eine Romanze beginnt ganz im Geschmack des feinen Paris, das da, 1868, im Parkett saß. Aber nur der Schatten, der dämpfend über den Farben dieses hingezauberten Bildes lag, wird bleiben. Er ist tödlich, kommt aus monströsen Grüften, die schon das nächste Bild aufreißt: Geißelmönche kriechen aus einer Nachtwelt überdimensionaler Kreuzigungen Christi, in schauerlichem Realismus als Bühnenplastik ausgeführt. Röchelnd hängt hinten der Heiland am Kreuz, abgerissene Glieder in noch groteskerem Format flankieren das Bühnenportal, graue Schiebwände erlauben fallweise eine passende Fokussierung obszöner Ausschnitte aus dieser Totale sadistischer Lüste. Sie kulminiert schließlich im Finale des dritten Aktes, dem Autodafe der Ketzer vor König Philipp, das zugleich zum Schauplatz der Erniedrigung des Sohnes Don Carlos wird. De Ana scheint sein Arsenal mit der Partitur in der Hand aufgebaut zu haben, exakt im Takt der Verdischen Dramaturgie, des Aufmarschs der Chöre, Haupt und Nebensolisten baut sich das Bild zu einer Halluzination von Boschs Gnaden zusammen, ergänzt allerdings um einige Anleihen bei modernen Fantasy-Romanen und Dekorationen für Heavy-Metal- Konzerte.
Doch es bleibt bei Verdis sorgfältig rekonstruierter Musik, die selbst den Aufruhr der Massen in vollkommene Chorsätze goß. Daran, an ihrem puren Gegenteil, muß sie sich messen, der absoluten Unförmigkeit jenseits jeden guten Geschmacks, an Sensenmännern, Kreuzen und Totenschädeln, gepanzerten Rittern, blutgierigen Barfüßern und tausend Symbolen finsterer Rituale, die allesamt herbeizitiert werden. Das ist ihr Drama, Verdis Drama, nicht jenes Germanistenstück über Don Carlos Liebe zu Elisabeth von Valois, der Königin und Gattin des Vaters, über Philipps Rache, Politik oder gar Posas Freiheitsintrige. Niemand ist hier frei, oder auch nur ernsthaft fähig zu einem Gefühl, das nicht sogleich in ein Verbrechen an der Menschlichkeit umschlüge.
Nun, Verdi gewinnt nicht in dieser Unterwelt, er hält sie bloß aus. Hugo de Anas Kunst allerdings ist mit dieser Orgie am Ende, sie konnte nicht mehr gesteigert werden. Danach haben wir viel Zeit zuzuhören. Die Bilder haben das vermeintliche Theaterstück aufgelöst, sie selbst sind jetzt auch nicht mehr von Belang, bleiben sich gleich, jetzt kommt die Stunde des puren Gesangs. Tatsächlich stehen ja die allergrößten Arien dieser Oper nach dem Autodafe des dritten Aktes noch bevor. Matti Salminen beginnt nach der Pause mit Philipps Monolog. Ja, dieser Lemure trauert, aber nur wenn Salminens Baß sich etwas erwärmt. Doch bald dunkelt das Timbre nach, wird leer, eigentlich ist da niemand, sondern nur eine Stimme, sie könnte morden, so kalt kann sie klingen — und genau das geschieht bekanntlich. Minutenlang muß Salminen in Pose verharren, um den Applaus auf offener Szene entgegenzunehmen. Julia Varady eröffnet den Schlußakt. Natürlich waren alle — fast alle — die ganze Zeit schon äußerst hörenswert, natürlich auch Julia Varady, aber was nun geschieht, wenn sie Elisabeths Arie am Grab Karls V. singt, das ist noch etwas mehr. Es ist eine Lektion darüber, was Singen jenseits aller Starallüren und Gagenfragen wirklich sein kann. Ton für Ton, mal großzügig ausschwingend, dann zurückgenommen, artikulierend, mit jederzeit beherrschtem Vibrato rekapituliert sie das ganze Drama. Es ist ja das Drama der reinen Musik gegen den Ungeist, der auch in dieser Elisabeth, der Theaterfigur, haust. Viel hat sie nicht mehr zu sagen. Aber sie singt, bis hinauf schließlich zu jenem letzten Ton, den Julia Varady nicht als Schrei inszeniert, nicht als Geste, sondern auflöst in ein weiches Mezzoforte, in ein exakt gesungenes Fragezeichen. Diese Oper bleibt offen, sie kann nicht fertig werden. Giacomo Aragall war ein sehr guter Don Carlos an diesem Premierenabend, was ihm fehlt, ist nur diese absolute Reife einer Julia Varady. Als leichte Enttäuschung mußte der Berliner Liebling Andreas Schmidt (Posa) notiert werden, und aus Marina Cioromila (Gräfin Eboli) wird vielleicht eine große Sängerin, sie ist es jetzt noch nicht. Daß in Berlin aber Oper von solchem Format zufällig an der falschen Straße gespielt wird, nicht ganz im künftigen Zentrum: damit wird man wohl leben können. Mit Verdi ging die kulturpolitische Rechnung mal wieder auf.
Nächste Aufführungen: heute und am 5. u. 7. Oktober
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