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Ritual des Erzählens

■ Georges-Arthur Goldschmidts Erzählung „Der unterbrochene Wald“

Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen, lautet der letzte Satz von Wittgensteins „tractatus“. Aber wenn es nun Dinge gibt, über die man nicht reden kann, weil einem die Worte dafür fehlen; über die man aber dennoch reden muß, um die Erinnerung an sie nicht verloren zu geben? Es ist genau diese scheinbar ausweglose Situation, in der Literatur entsteht. Die Dichter können nur die Flucht nach vorn antreten und ihr Gegenprogramm zu Wittgenstein formulieren: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schreiben.

Ein Mann, um die sechzig, macht seine täglichen Spaziergänge in der banlieue von Paris, vor einem Panorama, das dem Blick immer wieder neue Perspektiven in die freie Landschaft eröffnet. Plötzlich überfallen ihn die Erinnerungen, „so als wäre eine jede Landschaft errichtet auf der Erinnerung an eine andre“. Proust-Leser wissen: Das sind die Augenblicke des Eingedenkens, der wiedergefundenen Zeit. Der Mann erinnert sich an die Landschaften der Kindheit in Hamburg, das er 1938 als Zehnjähriger verlassen mußte; an die Jahre im Kinderheim und Waisenhaus in den französischen Hochalpen, wo er während des Krieges versteckt wurde, um nicht — er ist Jude — deportiert zu werden; an den ersten Besuch in der alten Heimat im Sommer 1949. Wie Gesteinsschichten lagern diese Zeitebenen übereinander und gehen ständig ineinander über.

Das Proustsche Verfahren, dieses Aneinanderreihen von Mosaiksteinen der Erinnerung, macht die Lektüre nicht einfach; aber wer sich einmal darauf eingelassen hat, der kann aus all den Bruchstücken dann doch so etwas wie eine Geschichte rekonstruieren. Bloß: was genau erzählt sie? Wie ein junger Jude aus Deutschland im besetzten Frankreich die Zeit der Verfolgung, der Todesangst und des Sich- verstecken-Müssens überlebt hat: eine politische Geschichte also? Ist es nicht viel eher eine Pubertätsgeschichte, die von jenem entscheidenden Jahrzehnt zwischen dem zehnten und dem zwanzigsten Lebensjahr berichtet, wo aus dem Knaben so etwas wie ein Mann werden soll? Oder vielleicht gar beides: die Geschichte eines Erwachsenwerdens unter extremen geschichtlichen Bedingungen?

Das katholische Kinderheim in Savoyen, in dem der Zehnjährige Unterschlupf findet, ist ein Hort der verbotenen Leidenschaften. Die Szenen, die Initiationsrituale, die sich in solchen Internaten abspielen, sind, so scheint es, überall dieselben: in der K.u.k.-Monarchie, im viktorianischen England oder in der französischen Provinz. Nur der soziale, der historische Hintergrund wechselt. Die Heranwachsenden spüren, daß etwas mit ihrem Körper vor sich geht, wissen aber nichts damit anzufangen. Es fehlen ihnen (und dem Erzähler) sogar die Worte dafür: aus Scham, aus Angst, aus Unsicherheit. Das Erziehungsprogramm hat es gerade darauf abgesehen, diese ziellose Kraft zu bändigen, zu disziplinieren. Der Flüchtling aus Deutschland macht eine paradoxe Erfahrung: Er wird von seinen Erziehern, die ihm Unterschlupf gewähren und so das Leben retten, in schöner Regelmäßigkeit „gezüchtigt“ — durch Rutenschläge auf den Hintern. Und seine Kameraden fallen über ihn her und quälen, ja vergewaltigen ihn. Statt sich zu wehren, läßt er all das mit sich geschehen, scheint es sogar, in immer neuen Wiederholungen, zu provozieren, ja als Demütigung zu genießen. „Die Züchtigung setzte ihm sonderbar zu, umriß den Körper, rechtfertigte seine Existenz.“ Und irgendwie, auf schwer erklärbare Weise, hängt diese Bereitschaft, diese „Willigkeit“, seinen Körper preiszugeben, zusammen mit seiner Situation als verfolgter und beschützter Jude, mit der Alternative: entweder die Deportation oder die Schläge, die das Überleben garantieren. Ich werde geschlagen, ich spüre meinen Körper, also bin ich.

Die Geschichte einer (sado)masochistischen Fixierung also? Oder die moralische Abrechnung mit einem unmenschlichen Erziehungssystem, einer brutalen Politik? Die biographischen Daten des Autors könnten vermuten lassen, hier liege nur eines der üblichen autobiographischen Erinnerungsbücher vor: 1928 in Hamburg als Kind einer deutsch-jüdischen Familie geboren, 1938 in ein Kinderheim nach Frankreich verschickt, um dem Zugriff der Nazis zu entgehen — die Parallelen zur Erzählung sind deutlich.

Und doch würden alle diese Zuordnungen das Problem verfehlen, um das es hier geht. Denn jedes psychologische oder moralische Urteil würde eben jene Klarheit und Eindeutigkeit herstellen, die der Ambivalenz der Erfahrung nicht gerecht wird. Die erinnernde Vergegenwärtigung des Vergangenen will ja gerade bis zu jenem Punkt vorstoßen, wo die ursprünglichen, die „wahren“ Empfindungen des pubertierenden Jünglings noch nicht durch eine intellektuelle oder moralische Zensur sentimental verfälscht sind. Der Schmerz und die Angst, die Tagträume und die heimlichen Phantasien von damals sollen noch einmal gleichsam körperlich präsent werden — ohne das überlegene, distanzierte Bescheidwissen von heute.

Ganz gelingt es Goldschmidt nicht, diese Perspektive durchzuhalten. Denn wann immer von „Schuld“ die Rede ist — und es ist sehr oft davon die Rede —, fragt man sich, wer da spricht und was gemeint ist. Ist es der Junge von damals, der seine sexuellen Phantasien und „Verfehlungen“ als „Schuld“ erfährt? Oder ist es die „Schuld“, überlebt zu haben, während die anderen Juden deportiert und ermordet wurden? Oder doch das rückblendende Urteil von heute, das die Schuld von damals gerade in der bereitwilligen Übernahme der Opferrolle sieht?

Im Ritual, sagt Freud, steckt nicht bloß die zwanghafte Wiederholung der traumatischen Situation, sondern schon so etwas wie der Versuch ihrer Bewältigung: Wer den Schmerz ritualisieren kann, macht sich ein Stück weit zum Herrn des Geschehens. Das gilt auch für das Ritual des Erzählens. In immer neuen Anläufen versucht es, sich der Vergangenheit zu vergewissern: Ja, so war es. So entwickelt Goldschmidts Prosa einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Sicher hat sie ihre literarischen Vorbilder: das Theater der Grausamkeit, in das sie uns führt, erinnert an Kafkas „Strafkolonie“; die Internatsgeschichte an Musils „Törleß“; die Verwandlung von Gefühlen und Stimmungen in Landschaftsbilder an die Seelenlandschaften Eichendorffs oder Stifters. Aber das muß kein Einwand sein. Peter Handke hat in seiner Übersetzung die rhythmische Geschmeidigkeit der langen Perioden bewahrt und uns mit einem Autor bekannt gemacht, den es hierzulande erst noch richtig zu entdecken gilt. Rolf Spinnler

Georges-Arthur Goldschmidt: „Der unterbrochene Wald“. Erzählung. Aus dem Französischen von Peter Handke. Ammann, Zürich 1992, 171 Seiten, 34 DM.

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