: "Fachbücher in den Giftschrank! "
■ Zeitphänomen Sucht: Kinder- und Jugendtherapeuthen tagen in Bremen / Eltern oft genauso hilfsbedürftig wie Kinder
und Jugendtherapeuten tagen in Bremen / Eltern oft genauso hilfebedürftig wie Kinder
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Kind vor Marlboro
Geheime VerführerFoto: Tristan Vankann
Auch Kinder sind süchtig: nach Naschereien, nach Spielen, nach der Glotze. Immer häufiger haben Psychotherapeuten in ihren Praxen mit psychisch abhängigen Kindern zu tun. Kinder mit einem „unersättlichen Hunger nach immer mehr“. Die spekta
kulären Fälle, alkohol- oder drogensüchtige Kinder, sind „nur die Spitze eines Eisbergs“, sagt Gerd Urbahnke, der Pressreferent der Vereinigung Analytischer Kinder- und Jugendlichen- Therapeuten.
Auf ihrer Jahrestagung neh men sich die „analytischen Kinder- und Jugendlichentherapeuten“ an diesem Wochenende in Bremen des „Zeitphänomens Sucht“ an. Ergebnisse könnten sie nicht bieten, kündigten die Kinderanalytiker im voraus an, sie seien aber auf der Suche nach ihrem Beitrag.
Genaue Ursachen, warum Kinder immer häufiger mit Sucht-Symptomen in die Praxen kommen, wollen und können die Psycho-Analytiker nicht nennen. Die Bremer Kindertherapeutin Marili Metzner beschreibt die Situation so: „Kinder brauchen einen Raum, wo sie Erlebnisse und Erfahrungen machen können, aber sie brauchen auch Begrenzungen.“ Kindheit könne heute kaum noch spontan erlebt, sie müsse inszeniert werden: In Vergnügungsparks, an Erlebnis- Nachmittagen. „Die Eltern sind ungeheuer verunsichert, sie haben Angst, ihre Kinder zu enttäuschen.“ Doch Kinder „brauchen auch Frustrationen“, ergänzt ihre Kollegin Karla Hoecken-Grün, „man kann sie nicht davor bewahren. Kinder sind sehr tragfähig, wenn sie auf einem stabilen Beziehungsboden stehen.“ Nur wenn sie frustriert werden, können Kinder auch lernen, Verantwortung zu übernehmen.
Die Verunsicherung der Eltern führt der Heidelberger Pschologe Gerhard Scheffler auf die Massen von Erziehungsratgebern zurück, die Jahr für Jahr erscheinen. „Fachbücher in den Giftschrank!“, rät er den Eltern, sie sollten lieber instinktiv reagieren. Die Eltern werden entweder zu rigide oder zu permissiv.“ Auch die Erwachsenenidentität, meint der Psychologe, sei „häufig so schwach, daß Eltern oder Lehrer keine Leitbildfunktion mehr hätten.
Karla Hoecken-Grün will aber die Schuld für die Sucht der Kinder nicht allein bei den Eltern suchen. „Sie sind genauso hilfsbedürftig wie die Kinder“. Die Psychologin: „Jeder von uns hätte die Chance, süchtig zu werden. Ob einer es wirklich wird, hängt davon ab, ob er glückliche Lebenumstände erwischt. Die Frage, wie Kinder überhaupt mit Problemen umgehen, hängt aber wesentlich davon ab, welches Vorbild die Eltern geben.
Daß ihr Kind psychisch abhängig ist, erkennen viele Eltern erst spät. Nur wenige süchtige Kinder haben deutliche Symptome. Meist kommen sie aus einem anderen Grund in die Praxis des Kindertherapeuten. Karla Hoecken-Grün warnt davor, psychische Abhängigkeiten im Vergleich zu Alkohol- oder Drogensucht unterzubewerten: „Es gibt Kinder, die verbringen den ganzen Tag vor dem Computer, sie haben keinen Freund mehr, aber das ist für die Eltern ja auch bequem. Und es ist gesellschaftlich erwünscht.“ Diemut Roether
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