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Der Traum der Hampelmänner

■ betr.: LeserInnenbriefe, taz vom 24.10.92

betr.: LeserInnenbriefe,

taz vom 24.10.92

[...] Bei einer Toten im vierten Monat handelt es sich um nichts anderes als pränatale Kinderquälerei aus technischer Hybris. Dahinter steht die unausgesprochene Idee, daß eine Schwangerschaft durch „technische Veredelung“ wertvoller werde, das heißt je höher der technische Aufwand, desto besser das Kind – wie es ja auch in der generellen Behandlung von Schwangerschaft als Krankheit zum Tragen kommt: das Mißtrauen gegenüber dem menschlichen Körper, ohne die „unfehlbare, heilige“ Technik irgend etwas richtig zu machen, einfach so, von selbst, ist gigantisch.

Der dahinterstehende Wahn lautet: Die Technik ist alles, der Mensch nichts; weswegen nicht die Entwicklung menschlichen Urteilsvermögens gefragt ist, sondern die demütige Unterwerfung unter den neuesten Stand der Technik. Die körperlichen und sozialen Beziehungen der Menschen untereinander gelten als wertlos und ohne Belang, nur die Beziehung des Menschen zur Maschine verspricht Prestige, Rendite und glattes Funktionieren. Der Traum der Hampelmänner, zu werden wie Maschinen, kann in der Tat nicht besser ausgedrückt werden als durch den Erlanger Fall: Das exklusiv weibliche Abenteuer der Schwangerschaft soll abgeschafft werden, weil sich die Menschen ihrer menschlichen Herkunft schämen (nicht Kinder blinkender Maschinen sind sie, sondern – igitt, wie altmodisch – organische Bestandteile ihrer schwangeren Mütter), und die damit verbundenen Zufälle der Natur der erwünschten Präzision zuwiderlaufen. Ob Geburtsvorsorgeuntersuchungen (Qualitätskontrolle des Nachwuchses!) oder Reproduktionsmedizin – immer werden Vorgänge technisiert, die sozial geregelt gehören; das technisch Machbare gilt sofort als das Erwünschte, dem sich die Menschen anzupassen haben, auch um den Preis der Verewigung des Übels.

So wie der Paragraph 218 dazu dient, die Verachtung gegenüber den geborenen Kindern als Ungeziefer der Straße (die gehört den Autos, basta!) und der Wohnung (die gehört dem Fernseher, basta!) wegzuheucheln und die gesellschaftliche Verantwortung für Kinder durch präventive Stigmatisierung der Frau zu vernebeln, so dient die Schwangerschaft unter technischer Aufsicht der Verleugnung der Unabwägbarkeiten: „Wunder der Technik“ sollen die Kinder sein, denn nur als solche wird ihnen vielleicht das fraglose Lebensrecht der Technik zugebilligt, das den Geborenen nicht ohne weiteres zugestanden wird. Nur wer frühzeitig an den Brüsten der Maschinen hing, gilt als verläßlicher Mensch, denn nur so wird eine Rebellion gegen Mutter Technik, die den Menschenkindern den Platz raubt, im Ansatz verhindert.

[...] Der Erlanger Fall versieht die seit längerem schwelende Frage nach Sinn und Unsinn der Apparatemedizin mit neuer Dringlichkeit: wäre es nicht gescheiter, statt ständig neue Apparate anzuschaffen, die dann zwangsweise wieder amortisiert werden müssen, in das Personal zu investieren, dessen Freundlichkeit schon einige Heilerfolge bewirkt hat?! Müssen Ärzte Klempner sein? Müssen PflegerInnen vor allem Maschinen(be)dienerInnen sein? Wann ist endlich Schluß mit der dümmlich-raffgierigen Quantitätslogik („mehr hilft mehr“), und wann wird endlich zu einer Wertschätzung der Qualität (erfordert Urteilsvermögen, nicht Feigheit vor dem Machtbarkeitswahn) übergegangen? Helga Schulze, Berlin

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