: Keine unveränderliche Verfassung
■ Hannsheinz Bauer, 83, war 1948/49 Mitglied des Parlamentarischen Rates und einer der Väter des Grundgesetzes / Der Wunsch nach Erhalt des Artikel 16 kollidiert für ihn mit der heutigen Realität
taz: Wie wurden Sie Mitglied des Parlamentarischen Rates?
Hannsheinz Bauer: Nach dem Krieg wurde ich 1946 Mitglied des ersten bayerischen Landtags und kam hierüber in den Parlamentarischen Rat. Die Alliierten hatten nämlich die Länder beauftragt, für eine verfassunggebende Versammlung geeignete Repräsentanten wählen zu lassen. Nach dem Mehrheitsverhältnis sind die Parteien berücksichtigt worden. Ich wurde von der SPD-Fraktion des bayerischen Landtags in den Parlamentarischen Rat delegiert.
SPD-Chef Engholm sagte in einem taz-Interview: „Ich will zurück zu dem, was die Mütter und Väter der Verfassung mal im Hinterkopf gehabt haben.“ Sind Sie der Ansicht, daß die heutigen Vorschläge tatsächlich ein Zurück zu den Gedanken von damals sind?
Die Gedanken von damals haben mit der heutigen Diskussion nicht viel gemein. Das Asylrecht entstand aus den spezifischen Erfahrungen von vielen Mitgliedern des Parlamentarischen Rates, die während des Nationalsozialismus politisch verfolgt waren. Bei dem Asylrechtsartikel hatte man überwiegend diese Erfahrungen im Hinterkopf. Sollte jemals wieder in einem europäischen Staat eine Diktatur an die Macht kommen, so wollte man für die Verfolgten ein Auffangbecken schaffen. Man dachte kontinental, also europäisch, aber nicht global.
Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates waren nicht mit Prophetie begabt. Man hat nicht im Entferntesten ahnen können, daß aus allen Ländern dieser Welt Flüchtende nach Deutschland kommen würden.
Ihre rückblickende Prognose ist demnach: Hätten die Parlamentarier damals prophetische Gaben besessen, hätten sie den Asylrechtsartikel in der bestehenden Fassung nicht aufgenommen.
Ja, das möchte ich vermuten.
Bedeutet das, daß der Begriff der Generosität, von der Carlo Schmid im Parlamentarischen Rat sprach, obsolet geworden ist?
Ein Land wie die Bundesrepublik mit einer bevorstehenden Rezession und mit steigenden Arbeitslosenzahlen im Westen und einem gigantischen Schuldenberg und Aufbaufinanzierung im Ostteil kann es sich nicht mehr leisten, generös zu sein. Ich bin für eine Restriktion bei der Zuwanderung. Der Grund übrigens, weshalb sich die Unternehmer in der jetzigen Situation so generös zeigen, ist: Sie sind für die Konkurrenz der ausländischen Arbeitnehmer, um über diesen Dreh die Tarifverträge auszuhebeln und so zu billigen Arbeitskräften zu kommen.
Wenn Sie heute Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion wären, welche Position nähmen Sie innerhalb der Asylrechtsdebatte ein?
Der Asylrechstartikel 16 sollte nach dem Gedankengang des ehemaligen bayrischen SPD-Landesvorsitzenden Schöfberger etwa so formuliert werden: das Asylrecht für politisch Verfolgte wird gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.
Wie stellen Sie sich die gesetzliche Realisierung dieses Vorschlags vor?
Es muß — derzeit auf der Basis parlamentarischer Kompromisse — ein Gesetzespaket für politische Zuwanderung, Staatsbürgerschaft und Eingliederung auf den Weg gebracht werden. Dabei muß man sich klar darüber sein, daß über den Verfahrensweg — z.B. durch Beschleunigung — das Grundproblem des Zuzugs nicht zu lösen ist.
Nähert sich Ihre Auffassung nicht sehr der CDU-Leitlinie an?
Ich mache meine objektive Entscheidung bei der Lösung eines Sachproblems nicht davon abhängig, ob sie mit der Sicht des politischen Gegners im Einklang steht. Ganz anderer Ansicht als die CDU/CSU bin ich übrigens hinsichtlich dieser „Heim ins Reich“- Politik. Ich denke nicht, daß der letzte Deutsche aus Kasachstan hier Aufnahme finden soll. Eine Zuzugsbegrenzung muß für sie genauso gelten.
Die Grundrechte als Individualrechte und nicht als bloße Programmsätze sind doch eine besondere Errungenschaft des Grundgesetzes. Bedeutet nicht eine solche Änderung des Assylrechts, daß elementare Grundrechte angetastet werden?
Wir, und allen voran Carlo Schmid, haben uns damals bemüht, die Grundrechte als subjektiv einklagbare Rechte zu formulieren und zu begreifen, um damit die Schwierigkeiten zu vermeiden, die sich bei der Wertung der einzelnen Weimarer Grundrechte hinsichtlich ihrer praktischen Einklagbarkeit ergaben. Der Erhalt sämtlicher Bestimmungen des Grundgesetzes ist ein frommer Wunsch, der aber mit der Realität kollidiert. Es ist auch bereits nicht weniger als 36 mal seit ihrem Bestehen geändert worden. Interview: Julia Albrecht
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