Armenien unter Wasser

Das Mannheimer Filmfest geriert sich noch immer als „armer Vetter aus der Provinz“ Hauptthema waren Filme aus und im Exil  ■ Von Jürgen Berger

Zerfallende und zerstörte Regionen, Fluchtbewegungen, Exilsituationen, Zwangszusammenhänge einer in chaotische Bewegung geratenen Welt waren das herausragende Thema der Filme auf dem Filmfestival in Mannheim, ob sie nun aus Japan oder der Ukraine, aus New York oder Berlin kamen. Überproportional vertreten dabei waren Regisseure aus der ehemaligen Sowjetunion wie Boris Frumin, der noch zu Zeiten Gorbatschows nach New York ging, da sein Film „Die Irrtümer der Jugend“ verboten wurde.

In New York spielt auch sein neuester Film „Black&White“ (USA). Eine junge Russin versucht in der Bronx Fuß zu fassen und trifft auf Roy, der mit seinem Rennrad unterwegs ist. Aber die sich anbahnende Liebesbeziehung ist in der Exilsituation zum Scheitern verurteilt. Lisa muß sich verkaufen, um Geld zu verdienen. Die gewohnten Schutzmechanismen nützen nichts mehr. Wer neue Spielregeln lernen will, liefert sich früher oder später aus.

In Mitsuo Yanagimachis ähnlich gelagerter Geschichte weiß man nie so recht, ob es sich tatsächlich um Exilchinesen in Tokio handelt. In „Alles über die Liebe“ (Japan) lernen sich eine junge Chinesin und ein junger Chinese kennen. Er wird bei der Manipulation eines Glücksspielgerätes vom Besitzer der Spielhölle ertappt und geht auf dessen Vorschlag ein, ihm die junge Chinesin gefügig zu machen. Ausgehend von dieser Konstellation hätte das ein gewagter Film über Fremde in einem fremden Land werden können, aber Yanagimachi zeigt, anders als Frumin, beliebige Bilder; sie hätten auch jede andere ethnische Minderheit überall in der Welt zeigen können. Nach dem Deal kommt der junge Chinese wie der Anführer einer Gang in die Spielhölle und reproduziert bis in die Fingerspitzen Haltungen und Gesten, wie man sie aus Hollywood kennt. Und um die Selbstverständlichkeit zu rechtfertigen, mit der die junge Chinesin bei dem Deal mitspielt, muß Yanagimachi seine Exilgeschichte gar noch mit Situationen aufpeppen, die an Oshimas „Reich der Sinne“ erinnern.

Don Askarjan kommt aus Armenien und lebt heute in Berlin, von wo aus er eine Traumreise in seine Heimat unternimmt. In seinem „Avetik“ tritt die Exilsituation in den Hintergrund, denn sein Held legt sich eines Tages mitten im Großstadtverkehr auf die Straße, um sich in die Heimat wegzuträumen. Traumstoff ist die aktuelle Zerstörung Armeniens, die Mythen, Traditionen und Überlieferungen. Gesprochen wird kaum, denn Askarjan arbeitet ausschließlich mit symbolisch aufgeladenen Bildern. Armenien ist bei ihm eine Region unter Wasser, in zugefrorenen Wiesen stecken verendete Schafe, Teile der Kadaver werden in Bächen fortgespült.

Die Bilder sind poetisch, aber man fühlt sich durch ihren Bedeutungsüberschwang erschlagen. Askarjan zeigt Panzer, die an einer Kapellenruine vorbeifahren, bis sie einstürzt. Wenn sich dann aber das Madonnengesicht aus einem Fresko löst, fällt es zu einem Soundtrack zusammen, daß man meint, ein Hochhaus sei eingefallen. Die orientalische Tönung der armenischen Tradition bebildert Askarjan mit lebenden Darstellungen von Positionen aus dem Kamasutra. Zuvor zeigte er sie auf Fresken in einem zerfallenen Haus, dann kommen sie immer wieder, auf einem Hügel, auf einem Floß, und so schön hingestellt, daß auch der letzte verstehen muß, daß bei so viel Zerstörung doch auf die Macht der Liebe gesetzt werden sollte.

Wenn es nach der Dramaturgie des neuen künstlerischen Direktors des Mannheimer Festivals gegangen wäre, hätte wohl Askarjans „Avetik“ (Armenien/Deutschland) den Großen Preis erhalten. Es sollte aber anders kommen. Michael Kötz hat dieses Jahr zum ersten Mal die Festivalbeiträge ausgewählt und angekündigt, er wolle den großen Festivals in Venedig, Cannes und Berlin mit den in Mannheim zur Verfügung stehenden Mitteln Konkurrenz machen. Daß ihm das gelungen ist, hat man an der Qualität der Filme noch nicht gesehen. Was sich tatsächlich geändert hat, ist das Marketing. In Mannheim geht es seit neuestem besonders darum, welcher Film wo abgeworben wurde. Man empfindet sich nach wie vor als der arme Vetter aus der Provinz, der nehmen muß, was übrigbleibt.

Den Großen Preis bekam Arvo Ihos für „For Crazies Only“ (Estland). Der Titel täuscht, denn es geht nicht um eine verrückte, sondern um die tragisch bis melodramatisch gefilmte Geschichte einer Krankenschwester, die sich auf ihrer Station mit einem jungen Selbstmörder einläßt. Es wird publik, sie wird sozial geächtet und am Ende umgebracht. Zu den starken Szenen des Films gehören die fast improvisiert wirkenden Situationen. Wenn man etwa zu einer Hochzeit beisammensitzt und die Krankenschwester amüsiert beobachtet, wie ihre Tochter mit dem gerade Angetrauten schäkert. Wenn später allerdings selbst die Tochter die Mutter verstößt, verläßt sich Arvo Iho nicht mehr auf seine Improvisationskunst, sondern bringt seine Geschichte vielmehr zu einem fernsehgerechten Schluß.

Gary Chason war Sprechtrainer von Größen wie Brooke Shields, arbeitete unter anderem mit Robert Altman, Sam Peckinpah und Louis Malle zusammen und hat sich tatsächlich eine verrückte Geschichte ausgedacht. Sein Held heißt Harold und wird von Sebastian Massa gespielt, der wie Woody Allen aussieht.

Harold kommt eines Tages nach Hause und findet zwei Killer vor, denen er angeblich den Auftrag zur Ermordung seiner Frau gegeben hat. Ein Alptraum beginnt, dann kommt die Entwarnung: Es war nur eine Inszenierung, die Geburtstagsüberraschung seiner Frau. Alles scheint vorbei. Gary Chason allerdings hat es verstanden, filmische Mittel des Horrorgenres und des film noir so geschickt einzusetzen, daß man in dieselbe Unsicherheit wie der Protagonist Harold gestürzt wird. Dieselben, die ihn gerade noch zähnefletschend verfolgten, verwandeln sich plötzlich in lächelnde Partygäste.

Harold wacht auf: Alles war nur ein Traum. So aber, wie die Wirklichkeit bei Gary Chason aussieht, meint man, wieder beginne ein Alptraum. „Charlie's Ear“ (USA), der sich als einer der stärksten Beiträge des Festivals erwies, bekam allerdings nur den Preis der Internationalen Filmpresse. Das bringt viel, aber kein Geld.