: Whisky für Japans Bahnkunden
Deutschlands Bahnchef Dürr will von der Privatisierung in Nippon lernen/ Unterschiedliche Voraussetzungen der Länder ■ Aus Tokio Georg Blume
Der Reisende aus Japan berichtete dem Chef der Deutschen Bundesbahn von seinen Erfahrungen in Deutschland. Kürzlich war er im ICE erster Klasse von Hamburg nach Hannover gefahren. Warum, fragte der Reisende, sei er während der Fahrt, die über eine Stunde währte, nicht ein einziges Mal bedient worden. Gäbe es denn im ICE keinen Platzservice? Er selbst sei anderes gewöhnt. Im Shinkansen-Schnellzug von Tokio nach Osaka bekomme er noch auf den Gleisen im Tokioter Hauptbahnhof je nach Tageszeit einen Kaffee oder Whisky angeboten.
Heinz Dürr überkommt bei solchen Schilderungen ein Hauch von Verzweiflung: „Wie die Japaner einen so guten Service hinkriegen“, gesteht der Vorsitzende der Deutschen Bundesbahn, „das ist es, was mich wundert.“ In Deutschland habe ihm der Bundesrechnungshof gerade damit gedroht, daß die Bahn ihren defizitären Bordservice weiter reduzieren müsse. Da allerdings mache er, Dürr, nicht mit. Deswegen sei er bereits zum zweiten Mal nach Tokio gekommen. „Die Japaner wissen“, richtet Dürr sich wieder auf, „was wir in Deutschland machen müssen.“
Fünf Jahre ist Japan heute den Deutschen bei der Privatisierung der Bahn voraus. Seit dem 1. April 1987 fahren in Japan nur noch Bahnen, deren oberstes Ziel es ist, Profit zu machen. „Die Erfahrungen der japanischen Eisenbahnen“, meint Dürr, „haben unterstrichen, daß die angestrebte Umwandlung der Deutschen Bahnen in eine Aktiengesellschaft der einzig richtige Weg ist.“ Tatsächlich erreichen Japans Bahnen ihr allererstes Ziel: Seit der Privatisierung erwirtschaften sie wieder regelmäßige Gewinne. 1990 waren es 3 Milliarden Mark, darauf folgte 1991 trotz Wachstumsrückgang der japanischen Wirtschaft ein Rekordgewinn von 3,8 Milliarden Mark vor Steuern. Die Betriebseinnahmen beliefen sich 1991 auf 57,6 Milliarden Mark, was einer durchschnittlichen jährlichen Zuwachsrate von 4,6 Prozent seit 1987 entspricht. Wieviel effizienter die Bahn seit der Privatisierung mit dem Geld umgeht, zeigt sich bei den Fahrpreisen: In den fünf Jahren vor der Privatisierung setzte es fast jedes Jahr eine deftige Fahrpreiserhöhung. Seit 1987 wurden die Bahnpreise nicht ein einziges Mal erhöht. Trotzdem steigerte die Bahn ihren Umsatz seit der Privatisierung schneller als zuvor.
Dabei ging es der Bahn in Japan früher nicht anders als in Deutschland: Sie war ein Milliarden schluckender Staatsbetrieb. Der gemeinnützige Auftrag der „Japan National Railway“ (JNR) sorgte dafür, daß ihr Schuldenberg ins Unermeßliche wuchs: Auf rund 450 Milliarden Mark mit einer jährlichen Zinsbelastung von 28 Milliarden Mark beliefen sich die Schulden 1986, im Jahr vor ihrer Auflösung. Dagegen ist die Verschuldung der Bundesbahn mit 56 Milliarden Mark fast eine Kleinigkeit.
Die Japaner erfanden deshalb das „Zwei-Säulen-Modell“ für die Bahnreform, dem die Deutschen im nächsten Jahr folgen wollen. Danach übernimmt eine Liquididationsgesellschaft die Altlasten der Bahn, wozu neben dem Abtragen des Schuldenbergs auch die Fortzahlung von Pensionen an ehemalige Angestellte zählt. Besonders die Personalfrage war in Japan leichter zu regeln als in Deutschland: Nippons Eisenbahner waren keine Beamten. Die Regierung konnte überzähligen JNR- Mitarbeitern einen Alternativjob anbieten oder entlassen, falls sie die neue Arbeit nicht annahmen. Von den 277.000 Mitarbeitern der alten Bahn wechselten 200.000 in die neuen Privatgesellschaften.
Die zweite Säule der Reform bilden die neuen Bahnunternehmen: In Japan wurde die JNR 1987 in sechs völlig getrennte regionale Gesellschaften für den Personenverkehr und eine nationale Gesellschaft für der Güterverkehr aufgeteilt. Eine regionale Aufteilung der Bahn lag in Japan aufgrund der getrennten Streckennetze auf den jeweiligen Inseln nahe. Die neuen japanischen Bahnen nahmen auch die Schienen in ihren Besitz. In diesen zwei Punkten unterscheiden sich die japanischen Maßnahmen vom deutschen Reformplan. Doch die wenigen Unterschiede verdeutlichen nur, wie sehr sich die Reformmodelle gleichen.
Die Schwierigkeiten beim Vergleich der Modelle liegen deshalb vor allem bei den unterschiedlichen Voraussetzungen in Deutschland und Japan. Jeder dritte Japaner wohnt heute in einem der beiden Ballungszentren um Tokio und Osaka. Die Auslastung der Züge liegt hier in den Stoßzeiten bei bis zu 200 Prozent, wenngleich die Bahnen im Minutentakt verkehren. Deshalb werfen die Nahverkehrssysteme in Tokio und Osaka einen hohen Profit ab, der Investitionen beispielsweise im Fernverkehr mitfinanziert. In Deutschland hingegen ist der Nahverkehr chronisch defizitär, und der Fernverkehr rechnet sich eher.
Die Bahn in Japan wird zudem durch geographische Gegebenheiten bevorteilt. Auf der wichtigsten Verkehrsstrecke des Landes zwischen Tokio und Osaka liegt die Bahnfahrzeit unter drei Stunden. Das Auto braucht dagegen durchschnittlich sieben Stunden. Auch im Großraum Tokio, wo man mit dem Auto heute nur noch eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 18 km/h erreicht, ist die Bahn wesentlich schneller. Was zum großen Teil erklärt, weshalb die PKW- Dichte in Japan um annähernd 40 Prozent unter der deutschen Rate liegt, während der Bahnanteil am Personenverkehr fünfmal so hoch wie in Deutschland ist. Dennoch hatten auch die im allgemeinen günstigeren Voraussetzungen der Bahn in Japan ihren Niedergang in den achtziger Jahren nicht verhindert. Erst die Privatisierung brachte den Wendepunkt.
Die Reform von 1987 zielte schließlich auf das Wesen der Eisenbahn schlechthin. Denn in Nippons Zügen ist nicht viel geblieben, wie es war. Vor allem der Service hat sich gründlich verbessert. Zug- und Bahnhofsangestellte, die früher für ihre Muffeligkeit berühmt waren, zeigen heute die im Land der Höflichkeit überall gewohnte Dienstbereitschaft. Im Shinkansen-Schnellzug ist der Service weitaus besser als auf Inlandsflügen. Landesweit wurden mehr Fahrkartenschalter eingerichtet, so daß Warteschlangen in den Bahnhöfen eine Seltenheit geworden sind.
Die wichtigsten Investitionen tätigten die neuen Bahnen beim Bau neuer Züge. Auf reizvollen Touristikstrecken wie etwa entlang der Halbinsel Izu fahren heute neue Panoramazüge, deren sämtliche Bänke sich zum Meeresblick hinwenden lassen. Wochenendzüge in die japanischen Alpen führen derweil neue Familienwaggons, die als Doppeldecker gestaltet sind: oben das Elternabteil, unten der Spielraum für die Kinder.
„Jedes Jahr erhalten wir 640.000 Verbesserungsvorschläge von unseren Angestellten – das sind acht Vorschläge pro Angestellten“, prahlt der Geschäftsbericht der 1987 gegründeten Ostjapanischen Eisenbahn. Oft schlägt sich die Innovationsbereitschaft in Kleinigkeiten nieder: In den immer vollen Stadtbahnen gibt es inzwischen auch Waggons ohne Sitzplätze. Während der Rush-Hour bewährt sich das. Videobildschirme in der Stadtbahn liefern Sport- und Wetternachrichten. Auch ohne Monatskarte muß man nicht mehr jede Fahrkarte einzeln lösen, dank einer Magnetkarte, die beim Bahnhofsein- und austritt den Fahrpreis automatisch abbucht.
Beim japanischen Kunden kommen solche Verbesserungen an: Trotz des beispiellosen Booms der japanischen Automobilindustrie in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre konnte die Bahn in Japan ihren Gesamtanteil am Personenverkehr halten – im Gegensatz zu den hohen Einbußen in Europa. Dahinter steckt eine gewaltige Wachstumsleistung: Seit 1988 stieg die Zahl der gefahrenen Bahnkilometer in Japan um annähernd 20 Prozent auf 630 Millionen Kilometer pro Jahr. Die Zahl der Fahrgäste wuchs in der gleichen Größenordnung auf jährlich 22 Milliarden. Kein Wunder also, wenn diese Erfolgsstory bei Europas notleidenden Eisenbahnen Furore macht.
Grundsätzliche Bedenken gegenüber der Bahnreform finden sich in Japan heute kaum mehr. „Seit der Privatisierung wurde viel für neue Wagen und Dienstleistungen investiert“, bemängelt hingegen Katsuhiko Hara von der Eisenbahnabteilung im Tokioter Transportministerium. „Aber die Investitionen für die Verstärkung der Transportfähigkeit der Bahn sind zurückgegangen. Denn beim Bau neuer Strecken, die sehr kostspielig sind, verhalten sich die privaten Gesellschaften vorsichtig.“
Nicht nur beim Ausbau des Streckennetzes, insbesondere hinsichtlich der Stillegung ländlicher Strecken hatten die Gegner der Privatisierung Bedenken angemeldet. In Japan hatte man sich hier schon vor der Privatisierung auf ein neues Regionalisierungskonzept geeinigt: Die als unprofitabel ausgewiesenen Strecken der alten Staatsbahn sind als Eigentum in neue, von den Gemeinden mitverwaltete Verkehrsunternehmen übergegangen, denen aus Tokio eine fixe Zuschußpauschale pro Bahnkilometer bis zur Höhe von 360.000,– Mark und weitere Subventionen innerhalb von fünf Jahren zustanden. So konnten von 83 unrentablen Strecken 38 überdauern, was einem Verlust von 1850 Streckenkilometer, annähernd acht Prozent des Gesamtnetzes entspricht. Dabei wiesen die geretteten Lokalbahnen 1991 ein Defizit zu Lasten der Gemeinden von insgesamt 30 Millionen Mark aus, was derzeit verkraftbar erscheint.
Der größte Schandfleck der japanischen Bahnprivatisierung ist freilich ein ganz anderer: Denn von einer wahren Privatisierung kann keine Rede sein, da noch keine einzige Aktie der neuen Eisenbahngesellschaften aus staatlicher Hand verkauft wurde. Nippons Börsencrash bereitete den Verkaufshoffnungen der Regierung ein rasches Ende. Damit konnte auch der Schuldenberg der alten Bahn bis heute nicht abgebaut werden. Im Grunde ist die japanische Bahn also bisher nur von einem behördlichen auf ein privatwirtschaftliches Management umgestellt worden. Mehr nicht und doch soviel.
„Wenn ich die fünf Jahre seit der Privatisierung überschaue und bewerten sollte“, meint Shoji Sumita, der Chef der Ostjapanischen Eisenbahn, „dann würde ich hundert Punkte geben.“ Der Japan- Reisende Heinz Dürr widerspricht seinem japanischen Kollegen nicht: „In Japan hat die Bahn wieder ein gutes Image. Unser Image ist dagegen schlecht.“
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