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Keine Angst vor Menschen

Schaubühne Berlin: Andrea Breth inszeniert Wampilows „Letzten Sommer in Tschulimsk“  ■ Von Niklaus Hablützel

Leicht mag sie es sich nicht machen, nicht sich selbst und auch nicht ihrem Publikum, das mit gewisser Skepsis der Premiere vom vergangenen Mittwoch entgegensah. Immerhin war die erste Regie der neuen Hausherrin zu begutachten, wenn auch nicht ihre allererste an der Berliner Schaubühne. Andrea Breth hat schon zweimal im Mendelssohn-Bau am Lehniner Platz inszeniert – zuletzt Gorkis „Nachtasyl“ –, nun aber, seit sie im Frühjahr die Leitung des noch immer prominentesten Berliner Theaters übernommen hat, gilt es Vertrauen zurückzugewinnen. Die Vorzeichen standen nicht eben gut. Denn Andrea Breth steht unter dem nie ganz ausgeräumten Verdacht, sie sei Peter Stein dem Großen nicht bloß – nach glücklosen Zwischenspielen zweier Regie- Männer – nachgefolgt, sondern habe ihn auch von seinem Stammplatz verdrängt. Kein Jahrhundertfaust (wie von Stein geplant) steht bevor, nur die harte Arbeit am Theater, und die zornige Schelte des verschmähten Titanen klingt noch immer in den Ohren, sowenig sie der Sache wirklich berechtigt sein mag. Demonstrativ großes Spektakel hätte da wohl nahegelegen, ein Paukenschlag zum Auftakt einer mutmaßlichen neuen Ära, der auch die Querelen im Ensemble zum Verstummen gebracht hätte.

Aber Andrea Breth mag diese Art des Theaterdonners nunmal nicht. Nur ein kleines Explosiönchen hat sie sich gestattet, um Alexander Wampilows Drama „Letzten Sommer in Tschulimsk“ zu eröffnen, manchmal dürfen später auch ein paar Tiefflieger über die Taiga dröhnen, sonst aber bleibt es still im Halbrund des Bühnenhorizonts, der hier bekanntlich eine Konsequenz der Architektur und kein Einfall eines Bühnenbildners ist.

In die bequemen Tiefen eines bloßen Kammerspiels versinkt dieses Theater nun allerdings auch nicht. Schauspieler dürfen, wenn ihre Zeit gekommen ist, aufbrechen zur großen Szene, dürfen alles übertönen, am schönsten wohl Michael König als Tischler Dergatschow, der mit steifem Hinkebein über Tresen, Stühle und Tische stakt, gröhlend vor Liebesverwundung und Schnaps, schließlich abstürzt, im hoffnunglosen Streit überwältigt, dann aber doch so leicht fällt wie ein Kind, auf Trost wartet und bald wieder aufsteht, sich zurückzieht mit einem leisen Lied. Und wiederkommt, um den selben Elendskreis von neuem abzuschreiten.

Denn nichts scheint in diesem Stück den endlosen Horizont Sibiriens jemals überwinden zu können, noch die lautstärksten Ausbrüche sprengen den Rahmen nicht, weder der Handlung noch der Bühne. Der opake, in stumpfem Abendblau und Morgenrot ausgeleuchtete Halbkreis des Hintergrundes fördert die Konzentration, fokussiert den Blick der Zuschauenden, aber auch die Bewegungen der Darstellenden auf ein imaginäres Zentrum hin, und wer auf diesem Prüfstand das Ziel verfehlt, trifft gar nichts mehr, kann nichts retten, dazuerfinden und nichts überspielen, der bloß ablenkenden Requisite fehlte hier schlicht der Platz.

Mutlos fast, so könnte es scheinen, hat sich Andrea Breth an Alexander Wampilows Anweisungen für das Bühnenbild gehalten. Tatsächlich steht da am linken Rand eine Bruchbude mit Balkon und Leiter, die, ironisch und naiv zugleich, mal wieder für höhere Liebesdialoge herhalten müssen. Das ist die Teestube der Anna Wassiljewa Choroschich, ein Treffpunkt verlorener Existenzen, gestrandeter Melancholiker und Zyniker mit russischer Seele, die uns seltsam bekannt vorkommen. Auf den ersten Blick zumindest scheinen sie alle den Erzählungen Puschkins, den Romanen Lermontows und – am meisten – den Dramen Tschechows entlaufen. Geradezu als Parodie auf dessen „Kirschgarten“ möchte im Programmheft Lola Debüßer diesen Text lesen, der 1970 entstand. So hilfreich ihre Anmerkungen zum geistigen Umfeld des 1972 tödlich verunglückten Erzählers und Dramatikers, so irreführend wäre es indessen doch, diesen „Sommer in Tschulimsk“ lediglich als späte Fortsetzung dieser Tschechowschen Tradition zu sehen. Zumindest Andrea Breth hat versucht, Wampilows letztes seiner drei abendfüllenden Dramen als Antithese zur Tschechowschen Nostalgie untergehender Stände zu inszenieren. Niemand erinnert sich hier besserer Zeiten, niemand pflegt Weltschmerz, wir sehen vielmehr Menschen, die sich in einer im Beckettschen Ausmaß gottverlassenen Gegend behaupten – Menschen des Volkes in einem zunächst noch ideologischen Sinne sollen es sein, ein reicher Bauer und seine schöne Tochter, ein Arbeiter, ein Ureinwohner der Taiga, ein gescheiterter Jurist, eine Apothekerin, ein lächerlicher Bürokrat: Alexander Wampilow zählt zu den Vertretern der sogenannten „Dorfliteratur“ (Debüser), die seit den sechziger Jahren eine wichtige Strömung innerhalb der sowjetischen Belletristik bildet.

Aber selbst Wampilows Anhänger vermißten bei alledem die ihnen dringend erscheinende Darstellung aktueller Gesellschaftsprobleme. Der 1937 geborene Sohn eines sibirischen Lehrers scheint mit Hilfe seiner meist autobiographisch gefärbten, nur scheinbar naiven Volkstypen weitergedacht zu haben als seine Kritiker. Eine vordergründig konservative, sogar apolitische Haltung hat ihm offenbar den Weg zu einer weit über die bloße Dissidenten- Opposition hinausreichenden Ideologiekritik eröffnet: Das sibirische Dorf und der Vorgarten der Teestube, in dem alle Welt herumtrampelt, sie sind theatralische Freiräume für elementare Erfahrungen der Liebe, des Versagens und des Stolzes, einer Menschlichkeit also, die um den Preis der ästhetischen Lüge nie wieder auf bloße soziale Umstände reduziert werden darf.

Wenigstens könnte Andrea Breths Regie den Blick für diese Verweigerung vor aller Propaganda schärfen, gerade weil dieses Stück auch in formaler Hinsicht so schrecklich konventionell gebaut ist. Über den Text hinausgehend, aber sehr plausibel läßt sie das System, das längst versagt hat, als heroische Nachtschatten in den Teegarten hereinbrechen. Manchmal verdunkelt sich mitten im Satz das Bühnenlicht, und Ikonen des Großen Vaterländischen Krieges taumeln herein, mal ein einzelnes Kind auf der Flucht, dann auch ein endloser Zug von Arbeiter- und Bauernkriegern mit Fahnen, der stumm vorbeizieht, so unwirklich wie die Weihnachtskerzen auf dem Gartenzaun, die von diesen Gespenstern im heißesten Sommer angezündet werden – aber auch so wirksam in der Seele wie die Bilder schlimmer Träume.

Was denn wäre gegen dieses nächtliche, noch in den hellsten Tag hereinbrechende Verhängnis zu tun? Nichts anderes als das, was während der zweieinhalb Stunden pausenloser Aufführung geschieht. Ein alter Mann in Wolldecke und Ledermütze schleicht um die Bretterbude, sucht ein Nachtlager, so beginnt das Spiel, dann repariert im Morgenlicht ein junges Mädchen den Gartenzaun, der dieser Mühe kaum wert ist, so naturalistisch verlottert steht er im Sand. Schon fallen die ersten Sätze, von denen wir noch nicht ahnen können, wie präzise sie das Thema des Stückes umreißen. Das Mädchen erschrickt. Aber nein, der Alte droht nicht mit dem Gewehr, das er in der Hand hält, er spricht mit fremdem, nämlich dem einheimischen Akzent seines Taigastammes: „Warum Angst? Vor wildem Tier mußt du Angst haben, vor Mensch nicht.“

Sie lächelt, wischt mit der Hand über das Gesicht: „Schon vorbei.“ Keine Angst vor dem Menschen, das andere, Schattenhafte ist vorbei – nur davon will Alexander Wampilow sprechen und scheut sich deshalb nicht, große Gefühle und großes Pathos in seinen Rollen zuzulassen. Denn sie alle verpassen sich und ihr Leben, Metschokin, der Buchhalter, den Ulrich Matthes als dickbäuchigen Trottel im Anzug spielt, jedoch mit soviel Komik, daß er vor dem bloßen Spott bewahrt bleibt. Und Swetlana Schönfelds Apothekerin hat die Sonne im Urlaub verpaßt, jetzt, wieder zu Hause und im Bett des verheirateten Untersuchungsrichters Schamanow (Wolfgang Michael), verpaßt sie auch ihn, den resignierten Moralisten, der die Liebe erst noch entdecken wird. Natürlich nur, um sie zu verfehlen – eine Hauptrolle im übrigen, denn diese Figur trägt ausgesprochen autobiographische Züge des Autors. Valentin, das Mädchen liebt ihn schon lange, es kann nicht gutgehen, schon gar nicht mit diesem etwas vage idealisch geratenen Paar. Denn da ist auch Paschka (Cornelius Obonya) der Sohn der Teestubenwirtin, grob wie Dergatschow der Tischler, der diesen Sohn aber nicht gezeugt hat. „Wir lieben uns wie die Hunde“, wird sie, die Choroschisch (Angela Schmid) über den Raufbold sagen – nur sind sie eben keine Hunde, sondern einander verfallen in Gewalt und Verletzung.

In ruhigen Peripetien entfalten sich die Spielarten dieser Tragödien auf kleinstem Raum, wie immer läßt sich Andrea Breth reichlich Zeit dafür, die detailverliebte Langsamkeit entwickelt jedoch bald einen unwiderstehlichen Sog. Vorhersehbar ist beinahe alles, aber die Stereotypien hören auf, Klischees zu sein, sie werden zu Universalien menschlichen Lebens. Ein ungeheures Unglück liegt darin, es ist ausweglos, aber doch nichts, worin sich diese Leidenden auflösen könnten; es ist ein Unglück, das sie immer weiter treibt, einen paradoxen Stolz der Personen enthüllt und sie zur Selbstbehauptung zwingt. Ein absolutes Recht haben sie auf dieses Leben, so schlecht es auch ausgeht – und das vermutlich dürfte die Zensoren gestört haben, die dafür sorgten, daß Aufführungen von Wampilows scheinbar so unpolitischen Stücken zu seinen Lebzeiten wahre Raritäten blieben.

Alexander Wampilow starb früh, er ist mit 35 Jahren buchstäblich gescheitert: Er war im August 1972 auf einen See gerudert, sein Boot schlug leck, aus eigener Kraft konnte er das Ufer nicht mehr erreichen. Auch seine Figuren in jenem letzten „Sommer von Tschulimsk“ erreichen das Ufer nicht. Nach allen Katastrophen sitzen sie wieder im Teegarten, der Buchhalter zeigt auf die Bruchbude und erzählt von dem Haus, an dem ein Kaufmann einst sein Leben lang gebaut hat. Ein Optimist wie alle, die hier seiner gedenken. Und mit pietätvollem Vorbehalt darf vielleicht sogar Alexander Wampilows unglücklicher Tod beim Schwimmen im sibirischen See als Metapher für diese Inszenierung genommen werden. Sie kommt nirgendwo an, schon gar nicht bei Peter Stein, aber sie schwimmt immerhin. Besser als ein Paukenschlag ist das in jedem Fall.

Alexander Wampilow: „Letzten Sommer in Tschulimsk“. Regie: Andrea Breth, Bühne: Gisbert Jäkel, Kostüme: Susanne Raschig. Mit: Wolfgang Michel, Cornelius Obonya u.a. Nächste Vorstellungen: 18., 19., 23.Dezember.

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