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Liebevolles und Unsagbares

■ Miriam Gillis Carlebach hat ein Porträt ihrer Mutter geschrieben, der Frau des letzten Oberrabiner von Hamburg / Das Buch ist Dölling & Galitz Verlag erschienen

hat ein Porträt ihrer Mutter geschrieben, der Frau des letzten Oberrabiners von Hamburg/Das Buch ist im Dölling & Galitz Verlag erschienen

Als zu Ehren ihres Vaters Joseph Carlebach, des letzten Oberrabbiners von Hamburg und Altona zu dessen 100. Geburtstag 1983 eine Feier in der Hamburger Synagoge stattfand, faßte die Tochter Miriam Gillis Carlebach den Entschluß, die Geschichte ihrer Mutter, Charlotte-Helene - genannt Lotte - Preuss zu schreiben. Sie wollte ihr damit (neben die imposante und charismatische Gestalt ihres Vaters) auch ein Denkmal setzen. Ihr Buch beinhaltet den Versuch, über die jüdische Mutter während des Holocaust zu schreiben, denn „sie ist die Mutter für all diejenigen, deren Schicksal nirgendwo geschrieben steht“.

Das Portrait der Mutter und Rabbiner-Frau Lotte Carlebach ist zugleich die Chronik einer jüdischen Familie und im Kern eine zutiefst Hamburger Geschichte. Lotte Preuss und Dr. Joseph Carlebach lernten sich am Lyzeum in Berlin kennen, an dem „Jo“ als Oberlehrer unterrichtete. Das schöne Mädchen faßte mit 17 Jahren den reifen Entschluß, den 35jährigen zu heiraten. Als Jungverheiratete zogen sie, nach einer kurzen Zeit in Kovno, nach Lübeck, wo „Jo“ seine erste Rabbinatsstelle annahm und schließlich mit den Töchtern Eva und Esther, den ersten von neun Kindern, nach Hamburg.

Liebevoll und lebendig schildert Gillis Carlebach die symbiotische Liebe ihrer Eltern, das Familienleben im Carlebachschen Neun-Kinder-Haushalt, das religiös, aber nie dogmatisch war. Mehrere Kapitel sind den jüdischen Feiertagen, mit ihrer besonderen Atmosphäre und den speziellen „Carlebach-Gerichten“, wie „Tannennadelsuppe“ zum Laubhüttenfest, gewidmet, um die sich zahlreiche Anekdoten über die klugen und oft frechen Carlebach- Kinder ranken. Immer mehr bricht in diese Welt der Wärme und Menschlichkeit die Barbarei der Nazis. Lotte Carlebach versucht, durch Witz und Humor die alltäglichen Demütigungen zu ertragen und ihre Kinder zu stärken.

1936 wird Dr. Joseph Carlebach, zuvor Oberrabbiner von Altona, zum Oberrabbiner von Hamburg. Es fällt ihm die schwere Aufgabe zu, die immer kleiner werdende Gemeinde zu betreuen, schließlich nur noch diejenigen, die kein Auslandsvisum bekamen. Miriam reißt als Kind heimlich Hetzpropaganda von Altonaer Hauswänden und erlebt die Zerstörung des Heine- Denkmals im Donners Park als Schock, symbolisch für das was folgte. 16jährig entschließt sie sich zur Auswanderung nach „Erez“ Israel. Bis 1938 emigrierten Judith und Julius, schließlich Esther und Eva mit Kindertransporten nach London.

1Der zweite Teil des Buches, der auch der unsagbare ist, besteht nur aus Briefen, in denen, weil sie mehrfacher Zensur unterworfen waren, zwischen den Zeilen gelesen werden muß. Lotte Carlebach hält die weit verstreute Familie zusammen, schickt Durchschläge der Kinder-Briefe aus London an den Rest der Familie und korrespondiert mit Großmutter Martha Preuss, die inzwischen nach „Erez“ gegangen ist. Mit ihrem Mann, aber zum Teil auf eigene Faust und ohne sein Wissen, bemühte sie sich vergeblich, für die verbliebene Familie

1eine Existenzmöglichkeit im Ausland zu finden. Die Briefe, die sie an ihre Kinder schrieb, charakterisieren jedes als ein besonderes, als „ihr Einziges“.

In Hamburg hält die Carlebachs auch die Verantwortung für die verbliebenen Gemeindemitglieder. Sie kümmerten sich um Angehörige, vor allem Kinder Inhaftierter und Deportierter. Rabbiner Carlebach reiste sogar einmal in der Woche nach Berlin, um für die dortige verwaiste Gemeinde zu predigen.

Ein Brief vom 3. Dezember 1941

1kündigt an, „wir stehem im Begriff nach Osten zu fahren“. Die Carlebachs, die drei Kleinsten, Noemi, Sara und Ruth und Peter wurden nach Riga deportiert, im Lager Jungfernhor bei Riga verliert sich ihre Spur, nur Peter überlebte. Dieses Wissen liegt, auch beim Lesen der schönen und lebensvollen Erinnerungen wie ein Kloß im Hals. Julia Mummenhoff

Miriam Gillis Carlebach, „Jedes Kind ist mein Einziges - Lotte Carlebach Preuss, Antlitz einer Mutter und Rabbiner Frau“, Dölling und Galitz Verlag, 288 S., 80 Abb., 34 Mark

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