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Elele – seit 21 Jahren Hand in Hand

Münchner Initiative arbeitet seit 21 Jahren mit ausländischen Kindern/ Langer Weg von der Hausaufgabenhilfe zur Jugend- und Elternarbeit/ Die Aufgaben wechseln mit den Wellen der Immigration  ■ Von Heide Platen

Anneliese Müller sitzt am einfachen Tisch im mit Spielen und Büchern vollgestopften zweiten Stock des Hinterhauses in der Münchner Hermann-Lingg-Straße. Die schmale weißhaarige Frau mit den großen blauen Augen ist 76 Jahre alt und stolz auf den jungen türkischen Buchbinder Halil, auf die spanische Zahnarzthelferin Maria, auf den Dreher Muzaffer und die Bürokauffrau Sevgi. Yasar studiert Informatik. Das sind „ihre“ Kinder aus der „ersten Generation“ der Arbeitsimmigration in die Bundesrepublik. Sie kamen Ende der 60er Jahre mit ihren Eltern, sind inzwischen erwachsen und haben qualifizierte Arbeitsstellen.

„Leicht war das nicht“, sagt Anneliese Müller und sieht den langen, beschwerlichen Weg noch einmal zurück. In ihr ist die Erinnerung an 21 Jahre Arbeit in der „Initiativgruppe Förderung von ausländischen Kindern und Jugendlichen e.V.“ (IG) gebündelt – vom Gründungstag bis heute. Ganz spontan haben sie damals 1971 angefangen, Geld gesammelt, Behörden abgeklappert: „Die Kinder haben wir einfach aufgesammelt. Die hatten nichts, konnten kein Deutsch, lebten in Hinterhöfen und Gartenhäusern. Sie waren bei der Anwerbung ihrer Eltern einfach nicht berücksichtigt worden.“ Und sie waren unterschiedlichen Alters und verschiedener Nationalität. Müller: „Wir hatten für sie auch nichts, keine Räume, keine Erfahrung. Und Geld haben wir schon gar keins gehabt.“ Für die zusammengewürfelte Gruppe, die sich da gefunden hatte, war das alles Neuland. Sie konzentrierte sich zuerst auf die dringendste Hilfe und machte mit den Schulkindern Hausaufgaben. 70 Ehrenamtliche betreuten auf einmal 250 Kinder.

Der Absturz: Vom Musterschüler zum Klassenletzten

Und sie protestierten gegen die Einführung der „national/muttersprachlichen Klassen“. Die Kinder, sagten sie, werden dadurch ausgegrenzt, ihre Schulabschlüsse als zweitklassig gewertet. Sie erlebten und erlitten den „Absturz“ und die Frustration „ihrer Kinder“ von Musterschülern zu Schlußlichtern nach dem Wechsel in die deutschen Schulen mit. Diese Kritik, sagen sie, „gilt auch heute immer noch“. „Aber das Spielen“, erinnert sich Anneliese Müller, „war auch damals schon wichtig. Manche Eltern wollten das erst nicht, weil die Kinder was lernen sollten.“ Die ehrenamtlichen Mitarbeiter wurden immer mehr. Zeitweilig, erinnert sich Christiane Schloffer, mußten 287 HelferInnen koordiniert und eingesetzt werden.

1974 bekamen sie dann den Theodor-Heuss-Preis für „vorbildliches demokratisches Verhalten, Zivilcourage und Einsatz für das Allgemeinwohl“ verliehen. Anneliese Müller erinnert sich, daß sie damals diskutiert haben, ob sie den überhaupt annehmen sollen. Sie registrierte mit Verwunderung und wohl auch stiller, höflicher Mißbilligung, daß die Preisverleiher „vorher bei mir in der Wohnung kontrollieren kamen“. Dorthin hatte sie, mangels anderer Räume, die Spielstunden verlegt: „In die Schulen durften wir als schulfremde Personen nicht.“

Die Initiative ist mit den ersten Kindern älter und erfahrener geworden. Und sie hat sich mit den Gegebenheiten immer wieder verändert. Jugendarbeit und Ausbildungsförderung kamen dazu, als die Kinder heranwuchsen. Die Kinderarbeit blieb, weil die jüngeren Geschwister nachwuchsen. Die Gruppenstruktur der gemischten Nationalitäten wandelte sich mehrmals. „Eine Zeitlang“, erinnert sich Münevver Schnackenburg – seit 13 Jahren dabei –, „war es hier, als ob wir nur ein türkisches Zentrum wären.“ Jetzt sind die Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien dazugekommen. Sie besucht die ausländischen Eltern, berät sie bei Konflikten mit Behörden und in der Familie.

Parallel dazu kamen neue Probleme auf den Verein zu, als ältere Kinder, zuerst bis 18, dann, nach Herabsetzung der Altersgrenze, bis 16 Jahre alt, ihren Eltern im Rahmen der Familienzusammenführung nachreisten. Bei vielen waren auch die sie in der Heimat betreuenden Großeltern zu alt geworden oder gestorben. Besonders viele kamen nach dem Anwerbestop von 1973 für über 18jährige. Für sie mußten, während sich ihre AltersgenossInnen gerade integrierten, Sprachintensivkurse her. Gleichzeitig reisten junge Männer und Frauen zurück in ihre Heimatländer, heirateten dort, kamen zurück und holten ihre Familien nach. Müller: „Das war dann schon die zweite Generation.“

Und auch hier gibt es unterschiedliche Strukturen. Junge Frauen, die hier aufgewachsen sind, haben andere Probleme als ihre Altersgenossinnen, die jetzt erst mit kleinen Kindern angekommen sind.

Ein eigenständiger Frauen-Arbeitsbereich in der IG enstand, den Christiane Schloffer betreut. Die jungen Frauen, die in den letzten Jahren aus der Türkei kamen, sind dort verheiratet worden. Sie kannten ihre Männer „kaum oder nur aus dem Urlaub“. Sie sind auch nicht, wie noch viele ihrer Mütter und Großmütter, für einen Arbeitsplatz angeworben worden. Ihnen fehlt oft das Selbstbewußtsein. Sie trauen sich nicht aus dem Haus: „Die sitzen hier fest.“

Sie haben kleine Kinder, können die Sprache nicht und haben kaum eine Chance, einen Arbeitsplatz zu bekommen. Für sie gibt es auch eine Therapie-Beratung. Aber auch den jungen Männern gehe es oft nicht viel besser. Das wenige, was sie in den Deutschkursen lernen, geht wieder verloren, wenn sie am Arbeitsplatz, zum Beispiel in einer Putzkolonne, auch nur in ihrer Heimatsprache reden können. Schloffer: „Dabei hatten sie in der Türkei oft eine gute Schulbildung. Das ist auch ein riesiges qualitatives Potential.“

Münevver Schnackenburg erinnert sich an die Alphabetisierungskurse für die erste Generation. Die seien dann lange Jahre „nicht mehr so notwendig gewesen“. Aber, hält Christiane Schloffer dagegen, „jetzt brauchen wir sie wieder für die nachgezogenen jungen Ehefrauen“. Die zweifeln, vor allem, wenn sie vom Land kommen, an sich selber, werden von Kindern und Männern nicht ermutigt. Sie schwanken, machen sich gegenseitig Konkurrenz und wollen ihr Unwissen nach außen verbergen.

Erste Tendenzen der Ausländerfeindlichkeit registrierte die Initiative bereits 1982. Die habe sich damals vor allem gegen die Türken gerichtet. Die IG reagiert mit einem aktuellen Diskussionskreis und Straßenfesten. Und mit den Problemen wächst auch die Anerkennung allmählich mit. Stadt, Land und die Robert-Bosch-Stiftung übernehmen einen großen Teil der Finanzierung.

Anneliese Schäfer setzt von Anfang an auf Hilfe zur Selbsthilfe: „Wir müssen aupassen, daß wir nicht zu sehr in Betreuung machen.“ Zur Vertrauenswerbung bei den Eltern habe es auch gehört, daß diese das Gefühl bekamen, die IG wolle sich nicht ungerechtfertigt einmischen. Ein eigenständiger „Elternverein“ entstand. „Hier wird nicht nur gefördert, sondern auch gefordert“, sagt Christiane Schloffer etwas streng. Und das muß sie auch sein, wenn es gilt, die vielfältig unterschiedlichen Vorstellungen nicht nur der ausländischen Kinder und Erwachsenen, sondern auch die der wechselnden Ehrenamtlichen zu koordinieren. Die IG hat dabei längst Manager- Qualitäten entwickelt, bietet auch den MitarbeiterInnen Gesprächskreise und Selbstreflexion an. Alle Beteiligten sollen gleichzeitig auch Multiplikatoren sein, ihre Erfahrungen und Kontakte ausstreuen und vervielfältigen.

Mancher der Erfahrungsberichte scheint wie die zeitversetzte eigene Geschichte, anderes ist fremd und vermittelt Aha-Erlebnisse. Die Mädchengruppe berichtet, ihre ersten Treffen hätten die Jungen sehr nervös gemacht: „Seid ihr Feministinnen? Habt ihr was gegen Männer? Warum dürfen wir nicht dabei sein?“

Tülay ist eine der jungen Frauen, die regelmäßig ins Zentrum und in die Teestube kommen. Sie ist 21 Jahre alt und lernt Kauffrau. Sie hat ihre eigenen Erfahrungen gemacht und sie nach einem Urlaub in der Türkei wieder in die deutsche Diaspora getragen. Ihr ist dabei erst richtig aufgefallen, wie konservativ ihre eigenen Eltern und die ihrer Freundinnen in Deutschland leben. In der Türkei, sagt sie, sei ihr das schon fast wieder zuviel Freiheit gewesen. „Dagegen sind wir hier reine Engelchen.“ Als sie vorsichtig auf „die Pille“ ansprach, „da waren die schon viel weiter als ich. Die ziehen das durch.“ Auch ihr Vater, bestätigt Yasmin, habe sich bei einem Besuch „sehr über die Veränderungen in der Türkei gewundert. Das ist hier viel konservativer.“

Yasmin mit dem ernsten, schmalen Gesicht ist eine nachdenkliche junge Frau. Sie geht nicht in Diskotheken, darf dort nicht hin, will das auch selber gar nicht und kommt lieber in das Zentrum. Hier weiß sie sich sicher aufgehoben, hier kann sie mit ihren Freundinnen auch über den Koran reden und darüber, daß nicht der Glaube die Frauen im Islam einschränke, „sondern die Tradition“. Die zupackendere Tülay lacht und wird rigoros: „Und das muß aus der Welt geschafft werden!“

Von ihren Müttern, sagen die beiden, unterscheide sie viel. So wie diese wollten sie nicht mehr leben, ohne Sprachkenntnisse, in Abhängigkeit und ohne eigene Berufsausbildung: „Für die war Arbeit nicht der Lebenszweck. Die strebten noch keine höheren Positionen an.“ Yasmin wünscht sich eine „Kombination der beiden Kulturen“ in Verständnis und Toleranz. Da hat sie auch sehr gute Erfahrungen. Ihre Schulklasse verzichtete ihretwegen nach dem elterlichen Verbot auf eine mehrtägige Reise nach Frankreich und machte mit ihr statt dessen eine eintägige Fahrt. „Aber sonst“, sagt sie, „lebe ich hier oft zwischen Tür und Angel. Man weiß nicht, wohin man gehört.“

Die Zeitschrift der IG heißt elele, aus dem Türkischen übersetzt „Hand in Hand“, und ersetzt seit diesem Herbst den Mitgliederrundbrief. Auf der ersten Seite setzt sie darauf, daß Qualifizierung nicht nur den ausländischen Jugendlichen, sondern auch der einheimischen Wirtschaft nützt. Trotz steigender Arbeitslosigkeit wachse der Bedarf nach Fachkräften bei Handel und Handwerk.

Ob das Engegement abgenommen habe? Naja, Anfang der 80er Jahre sei es schon etwas abgeflaut. Schloffer: „Da wurden die Friedens- und die Ökologiebewegung stärker.“ „Die Menschen haben“, sagt Anneliese Müller jenseits der „allgemeinen Stimmungslage“, wohl auch „nicht mehr so viel Zeit.“ Die Anforderungen an alle in der Gesellschaft seien „einfach härter geworden“. Den rechten Tendenzen begegnet die IG mit Diskussionen und der Teilname an Demonstrationen. Anneliese Müller kam anfangs zur IG „wegen der Geschichte meiner Generation. Ich wollte deshalb kritisch erziehen, nicht nur meine eigenen Kinder. Gerade deshalb tut das jetzt furchtbar weh.“ Das Selbstbewußtsein der Ausländer müsse gestützt werden.

Tülay hat es im Zentrum schon gewonnen: „Ich möchte mal gern mit so einem Skin reden. Aber allein. In Gruppen hat man bei denen no chance. Die haben ja selber keine – keine Ausbildung und nichts.“ Yasmin wirft den Politikern vor, „daß sie aus Angst vor ihrem Image zu wenig tun“. Aber, hofft Christiane Schloffer auf spontane Bereitschaft zur Unterstützung: „In solchen Zeiten wacht auch die andere Seite wieder auf.“ Fördermitglieder und Spenden sind erwünscht.

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