: Einstürzende Denkfassaden
■ Ich sehe einen roten Feuerball: Lothar Leidereiter veröffentlicht 34 neue Gedichte
: Lothar Leidereiter veröffentlicht 34 neue Gedichte
„auf daß der kessel überkocht“ schreibt der in Hamburg lebende Autor Lothar Leidereiter - eine Hoffnung und die Quintessenz aus größeren und kleineren Hamburger Kesseln und des Münchner Polizeikessels zum Weltwirtschaftsgipfel.
34 seiner Gedichte erschienen nun im Eigenverlag, versehen mit einem Nachwort des Hamburger Schriftstellers Peter Schütt. Sie spiegeln die bittere bundesdeutsche Realität des Autors wider, der seit sieben Jahren von Sozialhilfe lebt. 1937 in Königsberg geboren, sind seine Lebensstationen schnell aufgezählt: Erziehungsanstalt, Knast, Politisierung in der APO-Zeit in Berlin, Bankräuber. Seine Gedichte sprechen vom „Zynismus der freundlichen Gesten“ auf dem Arbeitsamt, dem Sozialamt oder „endlich auf dem Friedhof“. Die Gedichte verdeutlichen jedoch auch eine Wut im Bauch über gesellschaftliche und kapitalistische Zustände. Er macht Mut und fordert, als schlecht erkannte Zustände zu verändern. Schon zu Beginn findet sich eine „Vision“: So „kommt ein menschenkind mit einem funken ursprünglichkeit und geht durch tausendjährige denkfassaden und plötzlich stehen alle im kerker auf.“ Das physische Aufstehen geht im gesellschaftlichen Kerker einher mit der Überwindung des eigenen erstarrten Denkens und des verinnerlichten Knasts.
Sympathie und Wärme bringt er den „schattengewächsen“ entgegen, den „dadaistischen psychopathen“, die sich durch rhythmisches Tanzen auf der ihnen vom Kapital zugedachten Selektionsrampe entziehen. „bleibt im rythmus genossen“, ruft Leidereiter ihnen zu, „dann bricht das ding bald zusammen.“ Die „schattengewächse“ dieser Gesellschaft sind für Leidereiter nicht Psychopathen, sondern kreative und aufrührerische Dadaisten, also Genossen. Bei ihnen findet der Autor die Freiheit sensibler Menschen, deren „zukunftsperspektiven“ nicht in unsensibler Vernunft enden sollen, sondern „im sinnlichen unsinn, im liebevollen chaos.“
Gott ins Chaos zu stürzen, alle Käfige zu öffnen, die Scheckbuchdemokraten auf den freien Markt zu treiben und der revolutionären Volksjustiz zu überantworten, sieht er als einen Beginn, „mut zum kämpfen“ zu haben: „wenn die spiegelfassaden auf den asphalt fal-
1len, wird die frage der identität neu gestellt.“ Die Gedichte sind keine Erbauungspoesie. Sie regen an zum gemeinsamen Lesen, zum gemeinsamen Diskutieren und Handeln gegen gesellschaftlich-kapitalistische Reaktion und tausendjährige Denkfassaden im Kopf.
Jens Waßmann
„ich sehe einen roten feuerball“, erhältlich im Schwarzmarkt (Schäferkamp 46), Heinrich-Heine-Buchhandlung
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