: Naive Ziele
Das Ruhrgebiet dokumentiert ausgiebig seine „öffentlichen Lustbarkeiten“ ■ Von Christoph Danelzik
Wo viel gearbeitet wird, da tanzt auch mal der Bär, sagt eine alte Volksweisheit. Seit der Verwandlung des Kohlenpotts in eine Kulturlandschaft ist dort die Auswahl an Zerstreuungen so angewachsen, daß die allgemeine Arbeitsdisziplin beängstigend nachläßt. Dutzende von Museen, Theatern, Tiergärten und Fußballarenen befriedigen emotionale und Bildungsdefizite; die größte Disco, eine Spielbank, erfolgreicher als die von Monte Carlo, und anderes gesellen sich hinzu, und es nimmt nicht wunder, daß angesichts solcher Angebote die Region boomt. Mittlerweile ist sie auch geadelt, denn ihre Geschichte läßt sich über die Anfänge der Industrialisierung hinaus bis ins Mittelalter zurückverfolgen, seit anläßlich des Historikertags 1990 eine repräsentative Ausstellung mit dem Land der Staufer, Salier und Wittelsbacher gleichzog.
In zwei gleichzeitigen Ausstellungen rücken nun Museen in Dortmund und Essen die Vorstellung zurecht, im Revier seien auch in rußschwärzeren Tagen die einzigen Alternativen zur Maloche der Schrebergarten und der Bolzplatz gewesen. Und wenn sie sich geographisch aufs Revier beschränken, dann handelt es sich um eine wissenschaftlicher Redlichkeit geschuldeten Untertreibung, denn das meiste des Gezeigten ist nicht typisch allein fürs Ruhrgebiet, sondern läßt sich in jedem Ballungsgebiet jener Tage wiederfinden. Dortmund und Berlin verbindet mehr als nur eine Fluglinie. Das Beispiel der Stadt am Hellweg zeigt, daß eine gewisse Infrastruktur genügt, um auch in der Provinz Metropolenfieber zu verbreiten; und überdies, daß eine Stadt sich nicht über ihren Wohlstand profiliert, sondern ebenso über ihre kulturellen Angebote.
Umsonst ist allein der Tod, das Vergnügen muß erkauft werden. In Dortmund beginnt der Rundgang daher mit einer Passage, die den Wert des höchsten Guts veranschaulicht – der Zeit. Monströse Stechuhren sorgten bereits vor neunzig Jahren für ihre penible Abrechnung. Nicht von ungefähr erscheinen Uhren als mysteriöse Instrumente in zivilisationskritischen Spielfilmen von Fritz Lang bis Charlie Chaplin. Einem Faßbinder-Film ist der Titel der Ausstellung („8 Stunden sind kein Tag“) entliehen, und dieser erinnert an eine Devise der Arbeiterbewegung: „Wir wollen 8 Stunden zur Arbeit. 8 Stunden um uns auszubilden. 8 Stunden um uns auszuruhn.“ Der Spruch ziert ein Arbeiter-Chronometer von 1890. In der Realität war die Arbeitszeit bekanntlich erheblich länger. Im Kaufhaus Althoff war die Anwesenheit von zwei vor acht bis zwanzig Uhr Pflicht, Wochenendarbeit selbstverständlich. In der verbleibenden Freizeit wurde die Zeit weiter gemessen, bei Sportwettkämpfen und in der Taubenzucht. Die Konstatieruhr dient noch heute zur Feststellung der Flugzeit von Renntauben.
Neben der Zeit bestimmte Geld den Grad des Vergnügens, das teuer erkauft wurde. Trotzdem strömte alle Welt durch die Jahrmarktsgassen und in die zahlreichen „Tivolis“. Auf diese Kirmesgeschichte konzentriert sich die Essener Ausstellung und sticht in diesem Punkt Dortmund aus, was die Güte und Präsentation der Objekte betrifft.
Versammelt ist im abgedunkelten Saal Kurioses bis Monströses. Unstillbar war die Neugier auf wächserne Abbilder von Mohren und Syphilitikern. Nicht wiederzubeleben sind die menschlichen Attraktionen, von denen Werbetafeln erzählen: Karl Mays Wilder Westen war in den Schaubuden lebendig. Von den alten Spielautomaten stehen im Prinzip unveränderte Nachkommen noch heutzutage neben Schießständen und Autoscootern. Die meisten dienten zum Kräftemessen. Schließlich war das typische Kirmespublikum männlich, proletarisch und jung.
Zu betätigen sind die alten Schätzchen nicht mehr. Untermalt von flotten Melodien aus dem Hupfeld-Klavierautomaten, ist die Jahrmarktsschau in eine Atmosphäre säkularer Sakralität getaucht. Spots heben die trivialen Preziosen aus der theatralischen Schwärze. Ein großer Wurf gelang dem Ruhrlandmuseum mit der Einrichtung eines Kirmeskinos, in dem auf einem Großbildschirm Uraltfilme laufen mit so aufregenden Themen wie einem Zeppelinflug über dem Rheinland und Auftritten der kaiserlichen Familie.
Was die Essener Ausstellung spektakulär inszeniert, erklärt die Dortmunder Konkurrenz. Kirmes und Kino erhalten hier ihren Platz in einem vielschichtigen Freizeitkomplex. Er war von sozialen Komponenten stark beeinflußt. Auf engem Raum lebten und vergnügten sich die sozialen Klassen. Die bessere Gesellschaft ließ sich ihre Dominanz in keinem Bereich nehmen, auch nicht beim Vergnügen. Bis in die Stadtgestaltung reichten ihre Anstrengungen. Dortmund belebte die Tradition als ehemalige Reichsstadt wieder und scheute die immensen Kosten nicht, Kaiser Wilhelm II. zu einem kurzen Besuch zu bewegen, damit er den Stadthafen eröffnet. Wirkliche und Scheinarchitektur, Denkmäler und ein neues pompöses „Ratssilber“ verschlangen Unsummen. Majestät kamen wirklich, und stolz blickt das versammelte Bürgertum in Fotoaugen, die den historischen Moment festhalten.
Politisch nicht im Einklang mit der Stadtelite, betrieben Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung ihre Freizeitprogramme in ihrem Sinne. Sport und Bildung standen im Vordergrund, die Leistungsfähigkeit der Bevölkerung sollte erhalten bleiben und sittliche Festigung durch sinnvolle Tätigkeiten erreicht werden.
Sittlich war das Engagement im Radverein, anrüchig der Besuch des Sechstagerennens, das mit abstrusen „Steher“-Rennmaschinen präsent ist. Naturerfahrung mit dem Wanderverein und der Sonntagsspaziergang im Volkspark sind sprechende Belege für Karl Marx' Entfremdungstheorie. Schon in den 1860er Jahren wurden Stadtgärten angelegt, um die Arbeitskraft des Proletariats zu stärken und um es zu erziehen. Beim reglementierten und kontrollierten Parkbesuch sollten sich überdies die Klassen begegnen und dadurch soziale Gegensätze ausgeglichen werden. Wer die Fotos aus dem größten damaligen Park betrachtet, erkennt, daß diese Ziele naiv waren. Das Bürgertum investierte bevorzugt in distinguierende Moden. In der Innenstadt klafften die Lebensweisen noch deutlicher auseinander, wie sich beim Spaziergang durch Automatenladen, Eckkneipe, Kabarett und Tanzlokal zeigt. In den Dortmunder Varietés gab es immerhin auch billige Plätze.
Im Warenhaus kamen die Schichten wieder zusammen. Eine Mischung aus Luxus und Preiswertem lockte sie an. Während andere Vergnügungsformen verschwanden, hält sich der Konsum seit dato an der Spitze aller Freizeitgestaltung.
Freizeit, eine Erfindung jener Epoche, in der die Arbeitenden industriellen Maschinen gleichgestellt wurden, war für diese kein Freiraum. Kirchen und andere Moralinstitute bekämpften die Jahrmärkte, und vom Kaiser bis zu den Nazis sorgten die Herrschenden dafür, daß das Volk eines nicht lernte: Selbständigkeit.
Im Museum für Kunst und Kulturgeschichte, dessen neu hinzugekommene Räume für dieses ambitionierte Unternehmen zu klein sind, ist das Kunststück gelungen, eine soziologische Frage in ein Erlebnis zu verwandeln. Den Abschluß bildet das Nonstopkino von anno tobak, das „Kaiser-Panorama“, in dem eine Serie von 25 Stereofotos zu sehen ist, bei vierzehntägigem Programmwechsel. Auch hierbei konkurriert Essen, es bleibt zu hoffen, daß Serien wie die „Sommerfrische in Oberammergau“ nicht parallel laufen.
Ausstellungen: „8 Stunden sind kein Tag. Freizeit und Vergnügen in Dortmund 1870 bis 1939“. Dortmund, Museum für Kunst und Kulturgeschichte; bis 4. Juli 1993, Katalog: 49 DM
„Viel Vergnügen. Öffentliche Lustbarkeiten im Ruhrgebiet der Jahrhundertwende“. Essen, Ruhrlandmuseum; bis 12. April 1993, Katalog: 45 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen