: Die bösen Geister von Przemysl
Gegner der „Euroregion Karpathen“ schüren Ängste vor einer angeblichen Ukrainisierung Ostpolens/ Auswirkungen eines Kirchenstreits/ Gerüchte und Ressentiments ■ Aus Przemysl Klaus Bachmann
Der Bahnsteig von Przemysl ist gedrängt voll. Auf dem mittleren Gleis an einer Abfertigungsbaracke des Zolls warten schätzungsweise eintausend UkrainerInnen auf die Einfahrt des Fernzuges nach Kiew. Przemysl ist Hauptumschlagplatz für die Schmuggler und Händler aus der nahen Ukraine. Bis zu dreißigtausend versammeln sich an manchen Tagen im Stadion der Stadt und machen dort ihre Geschäfte. Przemysl liegt nur wenige Kilometer von der ukrainischen und einige Dutzend Kilometer von der slowakischen Grenze entfernt, ganz tief in der südostpolnischen Provinz.
Stadtrat Jan Bartminski gehört zu jenen Przemyslaner Lokalpolitikern, die aus der Not der Grenzlage eine Tugend machen wollen. Anfang des Jahres unterzeichnete er mit dem jetzigen Przemyslaner Woiwoden und Lokalpolitikern aus Ungarn, der Ukraine und der Slowakei das Statut der „Euroregion Karpathen“. Demnach soll nun die grenznahe Zusammenarbeit ausgeweitet werden. Woiwode Adam Peziol zählt die erhofften Vorteile auf: gemeinsame Messen, erleichterte Gründung von Joint- ventures, wissenschaftliche Zusammenarbeit, Umweltschutz, Jugendaustausch, eine gemeinsame Entwicklungsbank. Mit Mitteln der EG könne der Bau neuer Grenzübergänge finanziert werden.
Doch während Peziol so entspannt von den Chancen seiner Idee erzählt, debattiert im 500 km entfernten Warschau das Parlament darüber, ob die neue Euroregion „die fünfte Teilung Polens“, den „Verrat nationaler Interessen“ oder Schlimmeres bedeutet. Ohne Konsultationen, ohne Befragung der beteiligten Gemeinden und an der polnischen Staatsraison vorbei sei ein Gebilde entstanden, das die territoriale Einheit bedrohe, attackieren die selbst in der Regierung vertretenen Christnationalen Außenminister Skubiszewski – mit dem Beifall der Opposition. Statt Zustimmung, so stellt sich heraus, hat die neue Form grenzüberschreitender Zusammenarbeit vor allem tiefsitzende Ängste, Phobien und Komplexe geweckt. In Przemysl kommt noch eine Komponente dazu: Dort fürchtet man die „Ukrainisierung Przemysls“. Und das keineswegs wegen der ukrainischen Händler im Stadion.
Zu früheren Zeiten, als der San, der mitten durch die Stadt fließt, noch Ostgalizien von Westgalizien trennte, teilte sich die Bevölkerung der Stadt in drei ethnische Gruppen: Polen, Juden und Ukrainer. Die Juden wurden unter der deutschen Besatzung nahezu ausnahmslos ermordet, die Ukrainer dagegen von Polens Kommunisten nach dem Krieg in die Westgebiete zwangsumgesiedelt, im Rahmen der „Aktion Weichsel“, einer großangelegten Strafaktion zur Austrocknung des antikommunistischen ukrainischen Untergrunds. So lebt Polens ukrainische Minderheit heute verstreut in masurischen Dörfern, pommerschen Weilern, in Danzig, Stettin und Breslau. In Przemysl dagegen leben gerade noch 2.000 polnische Ukrainer, die bis zur demokratischen Wende 1989 von ihrer Nationalität vorsichtshalber nicht allzuviel Aufhebens machten.
Dazu kommt ein Streit um kirchliche Besitztümer: Im Jahre 1988, kurz bevor die letzte kommunistische Regierung Polens abtreten mußte, ließ sie noch ein Gesetz durch den Sejm boxen, das der Kirche enorme Vorteile verschaffte: Als einzige Institution erhielt sie das Recht auf Entschädigung für Enteignungen. Mit Schrecken wurden sich einige Lokalpolitiker in Przemysl darüber klar, daß vor dem Krieg die Mehrzahl der Kirchen in Przemysl der griechisch- katholischen und damit ukrainischen Kurie gehört hatte. Ein Großteil der Stadt war damals also in ukrainischer Hand. Ein weiterer Teil gehörte jenen Ukrainern, die durch die „Aktion Weichsel“ vertrieben wurden. Und die sollen nun nach dem derzeit im Sejm debattierten Reprivatisierungsgesetz für das damals erlittene Unrecht entschädigt werden. So gelang es der örtlichen Opposition, Vorurteile gegenüber den Ukrainern, Kritik an der Euroregion und Besitzängste zu einem explosiven Konglomerat zu verbinden.
Einer der Köpfe der Euroregion-Gegner ist der Anwalt und Gemeinderatsvorsitzende von Przemysl, Andrzej Matusiewicz. Als Jurist hat er gleich eine ganze Reihe von Gesetzen, Verordnungen und selbst internationalen Konventionen parat, gegen die die Euroregion verstoße. „Als sie den RGW gegründet haben, hat uns auch keiner gefragt“, vergleicht er kühn. Tatsächlich enthalten die zwischen den vier Teilnehmerländern in Debrecen unterzeichneten Dokumente nichts außer Absichtserklärungen, die sich auch ohne den Titel „Euroregion“ jederzeit erfüllen ließen.
Doch darum geht es Matusiewicz auch gar nicht – für die Kritiker der Euroregion ist diese nur ein weiterer Versuch, Przemysl zu ukrainisieren. Matusiewicz dagegen beunruhigt sehr, daß „aufgrund des Kirchengesetzes hier nur der griechisch-katholischen Kirche Güter zurückgegeben werden“. Das Przemyslaner Woiwodschaftsamt hat bisher elf Immobilien zurückgegeben, fünf davon an römisch-katholische Institutionen, was Matusiewicz nicht daran hindert, an seiner Behauptung hartnäckig festzuhalten.
Davon, daß griechische und römische Katholiken zur selben Kirche gehören, ist in Przemysl nichts zu spüren. Der Stadtrat hat inzwischen sogar das Kirchengesetz vor dem Verfassungsgericht angefochten, sollte er damit Erfolg haben, wäre das ein empfindlicher Schlag besonders für die römisch-katholische Kirche, die überall im Land inzwischen gewaltige Immobilien und Ländereien vom Staat zurückerhalten hat, die überwiegend von Polens Kommunisten nach dem Krieg enteignet worden waren.
Wenig von dem, was zur Zeit in Przemysl geschieht, ist rational erklärbar. Gerüchte, Mundpropaganda, Komplexe entwickeln in der polnischen Provinz gern ihre eigene Dynamik. Da genügt manchmal ein Gerücht, um eine ganze Stadt auf die Beine zu bringen. Polens Volksmund hat ein Sprichtwort dafür: „Wenn der Verstand schläft, erwachen die bösen Geister.“ In Przemysl sind sie erwacht. Und diese Geister, die die Opposition aus der Flasche gelassen hat, sind nicht so leicht wieder einzufangen.
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