: „Keiner unserer Jungs ist ein Literat“
■ Resozialisierung in der Turnhalle: Beim Sport stärken die Häftlinge der Berliner Jugendstrafanstalt ihr Ego und lernen, die Zusammenarbeit mit anderen zu schätzen
Berlin. Neulich, sagt Peter Linke, war wieder mal eine Stimmung im Haus, als wäre es um die Deutsche Meisterschaft gegangen: „Engagiert waren die Leute, gebrüllt haben sie, getobt, gekämpft.“ Ein nationaler Champion wurde nicht ermittelt in der Jugendstrafanstalt Berlin, in welcher Linke als Sportübungsleiter tätig ist, sondern lediglich der Knastmeister im Tischtennis. Regelmäßig treten die Bewohner der acht Häuser, aus denen die Anstalt besteht, gegeneinander an, um ihre Besten zu küren, auch in anderen Disziplinen wie Fußball, Hockey oder Volleyball.
Genügend Zeit und Raum zum Training haben die 390 Männer, die entweder in Untersuchungshaft sind oder eine Jugendstrafe absitzen. Nur bis zum Nachmittag sind sie mit ihrer Ausbildung beschäftigt, danach und am Wochenende können sie ihrer sportiven Leidenschaft frönen. Zwei Rasen- und zwei Kunststoffplätze gibt es im Gefängnis, zwei Turnhallen für den Winter. Sechs Vollzugsbeamte, die wie Peter Linke den Übungsleiterschein beim Landessportbund erworben haben, stehen als Trainer für die verschiedenen Disziplinen zur Verfügung. Arbeit haben sie genug, täglich ist das Training zu beaufsichtigen, regelmäßig sind Freundschaftsvergleiche zu organisieren. Neulich haben die Knastkicker gegen eine Mannschaft des Senats gespielt. Die Drogenabteilung mißt sich seit Jahren in einer eigens eingerichteten Liga mit verschiedenen Initiativen aus der Suchtprävention.
Auf den Sport legen die Verantwortlichen der Jugendstrafanstalt mit gutem Grund großen Wert; für die Leute im Knast gewinnt er mitunter eine Bedeutung, die über körperliche Ertüchtigung hinausgeht: Er kann das Ego stützen. Aus seinen intellektuellen Fähigkeiten kann schließlich keiner der Gefangenen Selbstvertrauen ableiten; „keiner unserer Jungs“, sagt Anstaltsleiter Marius Fiedler, „ist ein Literat“. 98 Prozent der Inhaftierten – im Durchschnitt 22 Jahre alt, einige sind minderjährig – haben keinen Hauptschulabschluß, viele lernen erst in Alphabetisierungskursen Lesen und Schreiben. Auch über handwerkliche Begabung verfügen die wenigsten, „die Geschicklichkeit, die man fürs Autoknacken braucht, überträgt sich nicht automatisch auf die Arbeit“, sagt Fiedler.
Da bietet der Sport die oft einzige Möglichkeit, sich und anderen zu beweisen, daß man etwas zu leisten vermag. Dieter Halling, Chef der Gefängnis-Sportlehrer, hat in seinen 33 Dienstjahren schon „Leute erlebt, die waren bei ihrer Einlieferung richtige Birnenstiele, kantig, spröde, unansprechbar.“ Manche hätten sich ihrer Umgebung erst geöffnet, nachdem sie im Sport brauchbare Leistungen zuwege brachten: „Das Selbstbewußtsein, das sie sich beim Kicken holen, nehmen sie in den Alltag mit.“ Fußball ist beliebt bei den Jungs. Noch lieber allerdings sieht Knastchef Fiedler – diplomierter Psychologe und Soziologe – seine Schützlinge Volleyball spielen, weil sie dabei lernen müssen, ihre eigenen Aggressionen zu kontrollieren. Diese – wie etwa beim Fußball – durch einen Tritt in des Gegners Gebein abzubauen, ist nicht möglich: Ein Netz trennt die Teams voneinander.
Ob Fuß- oder Volleyball, Hockey oder Handball – in allen Mannschaftssportarten erfahren die jungen Männer, nach fatalen Erlebnissen oft frühzeitig zu verschlossenen Einzelgängern geworden, daß manchmal nur die Zusammenarbeit mit anderen zum Erfolg führt. Der Lerneffekt, sagt Fiedler, stelle sich bereits vor Spielbeginn ein, wenn die Häftlinge, „die allgemein ein eher hedonistisches Leben führen“, zur verabredeten Zeit am verabredeten Ort erscheinen. Dieses Mindestmaß an Verbindlichkeit, sich an eine Absprache zu halten, sei für die meisten eine völlig neue Erfahrung.
Doch längst nicht alle machen vom Sportangebot Gebrauch. Wenige bleiben von vorneherein ausgeschlossen, weil sie schon mehrmals versucht haben, eine Sportveranstaltung zum Sprung über die Gefängnismauer zu nutzen. Viele andere ziehen einen Fernsehabend dem fordernden Training vor; beim Sommersportfest treten meist nur rund 60 Jungs an. Vermutlich wäre die Beteiligung reger, wenn die Verantwortlichen dem Drängen vieler Insassen nachgeben würden und Kampfsportarten anböten, Judo etwa, Boxen oder Karate. Aber dafür besteht keine Chance; zu gering ist die Disziplin der meisten Insassen, zu stark ausgeprägt ihre Bereitschaft, bei jeder Gelegenheit die Fäuste fliegen zu lassen. „Wir wollen nicht, daß die Leute sich bei uns Fähigkeiten aneignen, die sie später auf der Straße dazu verführen könnten, wieder Straftaten zu begehen“, sagt Dieter Halling. Und Peter Linke will schon mit Blick auf die Kollegen verhindern, daß der Umfang der Muskeln allzu bedrohliche Ausmaße annimmt: „Das können wir unseren Vollzugsbeamten gar nicht zumuten.“ Holger Gertz
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