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Eine Sicherheitsphilosophie aus dem 19. Jahrhundert

■ Politik will freiwillige Selbstkontrolle der Chemiefirmen durch Auflagen ersetzen

Die Politik pennt, die Feuerwehr rennt. Der gestrige tödliche Störfall hat die Debatte um die Sicherheit der deutschen Chemieindustrie zugespitzt. „Man kann doch nicht nach den Regeln des 19.Jahrhunderts die Produktionen des 20. Jahrhunderts kontrollieren“, schimpfte der umweltpolitische Sprecher der SPD, Michael Müller. Müller forderte nach dem neuerlichen Unfall bei Hoechst, daß die Chemieindustrie künftig mindestens den Standards der bundesdeutschen Atomindustrie genügen müsse. „Das heißt, erstens muß die Genehmigung von solchen Anlagen auf fünf Jahre befristet werden, dann ist ein neuer Antrag fällig. Und zweitens müssen die Firmen gezwungen werden, genau wie die AKW-Betreiber alle Erkenntnisse aus Unfällen, Störfällen und Zwischenfällen an die Öffentlichkeit zu geben, damit alle Firmen der Branche daraus lernen können.“

Müller setzte sich damit an die Spitze einer Politikerbewegung, die seit der vergangenen Woche aus dem Tiefschlaf aufgewacht ist. Wenn man der mächtigen Chemieindustrie schon nicht genügend in die Töpfe gucken kann, will man in Bonn, Wiesbaden und anderswo die Töpfe zumindest hinter doppelt gesicherte Türen verbannen. Bundesumweltminister Klaus Töpfer (CDU) hatte ähnlich wie Müller gefordert, daß die Chemieindustrie ihre Sicherheitsphilosophie künftig an der Atomindustrie messen läßt. „Man muß da schärfer ran“, bestätigte Töpfers Sprecher Martin Waldhausen gestern noch mal. Die Störfallserie bei Hoechst macht's möglich. „Die Chemieindustrie wird schon aus Selbsterhaltungswillen nicht dagegen sein.“

Bislang haben sich die Chemiekonzerne stets weitgehend selbst kontrolliert. Wie nach dem Preußischen Landrecht von 1839 bleibt eine einmal genehmigte Anlage nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz bis ans Ende ihres Lebens genehmigt. Der Betrieb hat sogar einen Rechtsanspruch auf die Genehmigung – eine Regelung, die die Bonner Regierungskoalition derzeit auch noch auf die Müllverbrennung ausdehnen will.

Werden die Anlagen älter, schreibt der Gesetzgeber in seiner unendlichen Weisheit hier und da Sicherheitsanalysen vor. Doch in der Chemieindustrie erstellten die Konzerne diese Sicherheitsanalysen selbst. „Die werksinternen Prüfer unterliegen einem großen Druck, nicht die wirklich harten Stellungnahmen abzugeben“, hat Ernst Achilles, ehemals Frankfurts erster Feuerwehrmann, bei seinen langjährigen Kontakten mit der Chemieindustrie festgestellt. Die Behörden kontrollieren nurmehr auf Plausibilität. Nur wenn etwas schiefgeht, ist die Behörde verantwortlich. Industriesprecher verweisen dann darauf, daß die Unfall-Anlage schließlich legal betrieben wurde, die Behörden seien vorher nicht eingeschritten. Diese Art von Selbstkontrolle, stöhnte Chemieingenieur Imre Kerner schon nach dem Unfall bei Sandoz vor sechs Jahren, sei so „wie wenn man den Dackel beauftragt, auf die Wurst achtzugeben“.

Forderung nach externen Kontrollen

Die Ergebnisse sind entsprechend katastrophal. Ein ähnlicher Unfall wie der vom Rosenmontag hatte sich bei Hoechst vor zwei Jahren schon einmal abgespielt, Konsequenzen wurden beim Branchenprimus offenbar nicht gezogen. „20 bis 30 Prozent aller Anlagen müssen nachgerüstet werden“, schätzte der Leiter der Störfallkommission, Franz Mayinger, erst kürzlich im Stern. Den Behörden fehlt das Personal und der Durchsetzungswille; Bayer, BASF und Hoechst sind vor Ort jeweils die mit Abstand größten Arbeitgeber, sie stehen für die Kommune oder Region, deren Behörden sie jetzt kontrollieren sollen. Und sie haben allerhöchste Fürsprache in Bonn. Da wird ein den Konzernen mißliebiger Gesetzentwurf schon mal aus dem zuständigen Ministerium ins Kanzleramt verlagert. Der Kanzler hat schließlich auch seine ersten Brötchen nach dem Studium bei BASF verdient.

In Hessen hatte der Verband der Chemischen Industrie seit zwei Wochen Gelegenheit, sich an die Zugluft zu gewöhnen. Umweltminister Fischer hat neue Sicherheitsanalysen verlangt und will auch externe Experten mit der Prüfung beauftragen. Der Bundesverband hielt vor dem tödlichen Unfall von Hoechst die Zeit noch nicht gekommen für einen Appell an die Mitgliedsfirmen, ihre Sicherheitsphilosophie zu überprüfen – die Unfallserie wird als Fall Hoechst betrachtet. Daß etwas grundsätzlich faul sein könnte in der Chemieindustrie, hielt sein Sprecher Manfred Ritz damals noch für Unsinn. Hermann-Josef Tenhagen

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