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Herausgeber, Polizisten etc.Zwangsgemeinschaft

■ Johann Georg R. – allein zu Haus

Man macht sich ganz falsche Vorstellungen. Man denkt, so ein Herausgeber der FAZ sei ein vielbeschäftigter Mensch, der für Nichtigkeiten kein Auge hat. Morgens klammerte er sich im Rücksitz seines Benz an die Griffe, während der Fahrer rasant den elektronischen Fallen der RAF ausweicht, in Ortsmitte, mit Tempo 120. Gegen Mittag würde er dem verantwortlichen Redakteur der Seite 1 eine Szene machen, weil der einen saudummen Herausgeberkommentar nicht drucken will. Und am Abend säße er in der Alten Oper in der ersten Reihe, um gesehen zu werden, ohne den Pöbel sehen zu müssen.

Aber siehe, man hat geirrt. Johann Georg Reißmüller inspiziert die Frankfurter U-Bahn, während „dort gewalttätige Jugendliche (...) allein oder in Gruppen ein unangefochtenes Regiment führen“. Und während Reißmüller dem gewalttätigen Jugendlichen, wie er so allein sein Regiment führt, gerade auflauert, muß er annehmen, daß derweil „ein aufgebrochenes Auto als ebenso normale Sache gilt wie ein nicht aufgebrochenes“. Und daß sich die Polizei darum nicht kümmert, um die vielen aufgebrochenen Autos und die nicht aufgebrochenen.

Und während er in den Straßenschluchten von Frankfurt, so als Herausgeber im rüden Alltag der zwangsläufig repräsentativen Bundesrepublik unterwegs, gerade auftaucht, muß er erkennen, „daß unzählige Autofahrer, auch akademisch ausgebildete, ihre Zigarettenkippen nur noch aus dem Fenster werfen“: Da fahren sie an ihm vorbei, Kolonnen junger Männer in Doktorhüten, und werfen ihre Kippen aus den Fenstern ihrer aufgebrochenen oder nicht aufgebrochenen Autos. Das bleibt nicht ohne Folgen: „In den Abfall-Containern klaffen Brandlöcher; Verkehrsschilder sind verbogen.“ Und die „Polizei antwortet – siehe oben“.

Soeben wollte er beim Amt vorsprechen, um den Mißständen abhelfen zu lassen, als er den fehlerhaften Aushang entdeckt. Aber was muß er da vernehmen? „Daß Bedienstete (...) auf Klagen über falsches Deutsch in ihren öffentlich aushängenden Texten (...) erwidern, viel schlimmer sei die Dürre in Uganda.“ Da wundert es ihn nicht mehr, daß „in den Zentren der Großstädte Rauschgiftsüchtige, Trinker, Verwahrloste ganze Viertel besetzt halten und für die Bewohner wie die Besucher der Stadt unpassierbar machen“.

Für einen Moment zögert er, ob er sich in der Zeil für einen Bewohner oder Besucher halten soll, als er im Kaufhof, die Parfümerie-Abteilung durchschlendernd, Zeuge wird, wie Horden von Dieben das kostbare Gut ohne Widerspruch in ihren tiefen Taschen verschwinden lassen; woraufhin Reißmüller begreift, daß er, Stellvertreter der „ordentlichen Leute“, sich „zu einer Zwangsgemeinschaft mit den Dieben zusammengeschlossen“ findet. Während die „Verkäufer beiderlei Geschlechts“ die Gemeinschaft der Zwangsneurotiker ignorieren, „damit sie sich untereinander langwierig streiten können“.

Wirklich, wir leben in finsteren Zeiten! Der Herausgeber, schwer angeschlagen, „fängt an zu überlegen, ob der Bevölkerung und dem Staat nicht Kurskorrekturen guttäten“, und läßt sich mit dem Taxi in die Hellerhofstraße kutschieren. Er ist erschüttert, daß der Taxifahrer sich ganz ordentlich benimmt. Die Taxifahrer fallen für den Kommentar also aus.

Aber was müssen die müden Augen des verblendeten Herausgebers Reißmüller erkennen, als er das heimische Redaktionsgebäude betritt? „Daß sich die Leute nun schon am Donnerstagvormittag zum ,schönen Wochenende‘ voneinander verabschieden“, und im Falle jener, die dortgeblieben, das private Telefonieren „das Arbeiten am Arbeitsplatz verdrängt, der damit zum Plauderplatz wird“.

Das, sagt sich Reißmüller, wird er nicht zulassen. Er wird ein Protokoll seiner fürchterlichen Reise schreiben, und nichts, nein nichts und niemanden wird er verschonen. Außer den Taxifahrer. Er wird dieses Protokoll unter der Überschrift „Und daß alles immer schlimmer wird“ – nein, besser noch: „Was sich da alles selbst verwirklicht“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in seiner Frankfurter Allgemeinen Zeitung am Montag veröffentlichen, und zwar auf Seite eins. Ganz gleich, was der plaudernde Redakteur, der wahrscheinlich nach Feierabend Kippen aus seinem aufgebrochenen oder nicht aufgebrochenen Auto wirft, ohne daß die Polizei einschreitet, davon hält.

So wütend ist er. Nicht über die Serben. Nicht über Engholm. Es ist ihm jetzt auch egal, welche Nachrichten am Wochenende über den Ticker laufen werden. Wenn es nach ihm geht, kann Kohl erschossen werden oder die Bundesregierung im Gespräch mit den Polen den Asylkompromiß aufweichen; oder es können die Terroristen – er lacht innerlich bei dem aberwitzigen Gedanken– den Gefängnisneubau in Weiterstadt in die Luft jagen. Kein Wort darüber. Kommentiert wird, was wichtig ist. Parole: Schluß mit dem Gedöns.

Wer, wenn nicht Reißmüller, wird dafür sorgen, daß nicht „Leute aller Schichten sofort pöbelhaft herumschreien, wenn etwas nicht nach ihrem Willen geht“. Von Grimm geplagt, stand er noch nach Mitternacht in seinem glitzernden Büro, sah herunter auf das verfluchte Land und führte einsamer als jemals unangefochten Regiment. Ulf Erdmann Ziegler

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