■ Deutscher Besitzstand angesichts osteuropäischer Not: Gewerkschaftsnationalismus
Deutsche Stahlarbeiter skandieren gegen „osteuropäisches Stahldumping“; französische Fischer liefern sich blutige Straßenschlachten gegen den Import russischer Heringe; vor drei Tagen standen Ruhrbergleute bei Eberhard Diepgen auf der Matte, um zu erreichen, daß die Berliner Kraftwerke auch in den nächsten Jahrzehnten mit Deutschkohle befeuert werden und nicht etwa mit dem zum 20 Prozent niedrigeren Weltmarktpreis lieferbaren Schwarzen Gold aus Oberschlesien.
Vorgestern verabschiedete die nicht gerade konjunkturgeschädigte deutsche Bauwirtschaft gemeinsam mit der IG Bau Steine Erden – und auf deren Druck – eine pompös aufgedonnerte „Frankfurter Erklärung“. Inhalt: „Vollständige Abschaffung“ der Werksvertragsregelungen, die die Bundesregierung in der Euphorie des Jahres 1989/90 mit den osteuropäischen Nachbarregierungen abgeschlossen hatte. Besagte Regelungen erlauben es gegenwärtig 80.000 Bauarbeitern aus Osteuropa, insbesondere aus Polen, legal und mit Genehmigung der Landesarbeitsämter drei Monate bis maximal drei Jahre in der Bundesrepublik zu arbeiten. Nur nebenbei: Die Bundesregierung hat die Zahl dieser Arbeiter in gewissermaßen vorauseilendem Gehorsam seit Jahresbeginn bereits von ursprünglich 100.000 um 20.000 „heruntergefahren“.
Aber die Gewerkschaftsfunktionäre gehen aufs Ganze: Äußerlich fordern sie die Tarif- und versicherungsrechtliche Gleichstellung der osteuropäischen „Kollegen“, lassen wahlweise Krokodilstränen für die dort so geschundene Umwelt kullern, die eine Stillegung sämtlicher östlich von Deutschland gelegenen Montanbetriebe als ökohumanistisches Gebot der Stunde nahelege. Tatsächlich aber geht es um nichts weiter als um die Austreibung und Abschottung der unliebsamen osteuropäischen Konkurrenz. Es geht um die pure nationalistische Besitzstandswahrung. Gewerkschaftsfunktionäre müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, daß sie mit ihrem egomanen, im Sinne europäischer Politik verantwortungslosen Geschwätz die in Deutschland vorhandenen rassistischen Unterströmungen weiter fördern.
Die von den Gewerkschaftsführern und ihrer Basis so einhellig intendierte protektionistische Arisierung der deutschen Wirtschaft nimmt den OsteuropäerInnen die Luft, drängt sie weiter in die Position der Bittsteller ab, verstärkt ihre Hoffnungslosigkeit und ihre inneren Konflikte – vergiftet das außenpolitische Klima. Statt dessen müssen die deutschen Grenzen für die osteuropäischen Importeure von Waren und Arbeitsleistungen nicht nur entsprechend bestehender Verträge offen bleiben, sondern weiter geöffnet werden.
Die deutsche Wirtschaft und die deutsche Bevölkerung müssen sich dem anpassen – gegen den neudeutschen Gewerkschaftsnationalismus, für die von Verelendung bedrohten Familien tschechischer Stahlkocher oder Näherinnen, polnischer Bauhandwerker oder russischer Fischer. Götz Aly
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