Sanssouci: Vorschlag
■ Sehen und Tasten – Stefan Thiel in der allgirls gallery
Die Fassade der allgirls gallery besteht nur aus Fensterscheiben. Man sieht schon alles von der Türschwelle aus, alles auf einen Blick: Die Wände zartrosa, die Heizung frisch mit weißer Farbe lackiert, links vom Durchgang hängt ein Passepartout mit zwölf schulheftgroßen grauen Tafeln in Sechserreihen unter Glas, daneben klebt in der unteren rechten Ecke ein museumspädagogisch korrekt angebrachter Flyer mit Informationen. Die Bilder fehlen. Mit Konzept-Kunst hat das ganzheitlich karge Szenario nur am Rande zu tun, eher geht es um Wahrnehmung. Denn in die grauen Pappen hat Stefan Thiel einen Text in Blindenschrift stanzen lassen, dessen Übersetzung kleingedruckt, aber leserlich auf dem Infoblatt steht. Von einem jungen Mann ist darauf die Rede und von einem Leder-Rocker, der pißt. Dann geht alles sehr schnell. Oral, anal und schweißsockensaugend zum Höhepunkt. Unsicher wendet sich der Leser um, fühlt sich ertappt, und schaut, ob er bei der Lektüre beobachtet worden ist. Klassisch scheint die Situation des Voyeurs vor seinem Auge aufzuziehen – sehen, ohne gesehen zu werden. Blinden ergeht es in der Regel umgekehrt. Das ist aber in der Galeriesituation keine Frage der Wahrnehmung, sondern des Konzepts. Durch das veränderte Zusammenspiel ihrer Sinne unterscheiden sich die Erfahrungen Blinder von denen Sehender, ohne daß außer ein paar geschulten Sozialarbeitern jemand davon wüßte. So berichtete eine Blinde Stefan Thiel von ihrem Freund und dessen steter Klage, sie möge sich endlich eine Wohnzimmerlampe anschaffen, während ihr selbst jedes Licht- oder Farbempfinden völlig abstrakt bleibt. Damit einher geht aber zugleich auch eine gewandelte Sprache, in der es keine visuellen Metaphern gibt, mithin eine verändertes Verständnis des Imaginären. Raum bemißt sich einzig aus der Spannbreite beider Hände. Bilder, so Thiels Conclusion, bleiben Blinden fremd, eindeutige Handlungen, Geräusche, Körper und eben Begreifbares stehen dagegen im Mittelpunkt ihrer Wahrnehmung. Das harte, aber haptische SM- Porno an der Wand vollzieht nun gerade ohne große symbolische Umschweife sehr explizit Handlungen. Doch ansonsten blieben Blinde für die Hersteller erotischer Literatur bislang unentdeckt. Lediglich ein Buch von Anais Nin wurde in die aus sechs Punkten kodierte Braille-Schrift übersetzt. Eine sexuelle Konnotation über das Auge wird vorausgesetzt, so wie auch im Porno das Körperliche hinter der fragmentierten Darstellung einiger visuell hervorgehobener, zeichenhafter Geschlechtsteile verschwindet. Blinde dagegen erfühlen jedes Zeichen, ob Körper oder Schrift. Genau diesen Zugang aber verweigert Stefan Thiel den BesucherInnen seiner Ausstellung, denn „die Möglichkeit einer visuellen Erfahrung wird zum Handikap für eine haptische Erfahrung“. Die Installation ist hinter Glas angebracht, damit die prothetische Schrift aus der Stanze keinen spekulativen oder spielerischen Charakter annimmt. Keiner soll meinen können zu fühlen, was Blinde sehen. Die Betrachtung der Blindheit bleibt abstrakt. Harald Fricke
Bis 29.4., Kleine Hamburger Straße 16, Berlin Mitte; do, fr, so 14–18 Uhr; sa 11–15 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen