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Das ganze Haus

Politische Ökonomie: Wohnen und Haushalt im Wandel der Zeiten  ■ Von Brigitte Werneburg

„Gibt es ein Leben vor dem Tod?“ Die Antwort auf diese kalauernde Frage, die sich einigen Leute aufgrund Arbeitsüberlastung in deprimierender Regelmäßigkeit aufdrängt, lautet schlicht: nein.

Leben, bios, gibt es nur dann, wenn jegliche Tätigkeit, die dazu dient, das Notwendige herbeizuschaffen oder das Nützliche zu produzieren, ausgeschlossen ist; wenn der Mensch in jedem Augenblick Herr seiner Zeit und seines Aufenthaltsortes – kurz – frei ist. So jedenfalls referiert Hannah Arendt in „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ Aristoteles. Ihr Beitrag über antike Polis und Haushalt ist der erste von 75 (!) Aufsätzen in dem Katalogband „Oikos. Von der Feuerstelle zur Mikrowelle. Haushalt und Wohnen im Wandel“. Eine Textmasse, die Leben in besagtem Sinne unmöglich macht, weil vergnügliches Lesen notwendigerweise wieder zu Arbeit wird und dem Katalog zu 2,2 auf der Küchenwaage (!) gemessenen Kilogramm verhilft.

Im griechisch-antiken Denken war Freiheit die unabdingbare Voraussetzung der Politik, die daher unvereinbar mit dem Leben in Haus und Familie war. „Was wir heute Gesellschaft nennen, ist ein Familienkollektiv, das sich ökonomisch als gigantische Über-Familie versteht und dessen politische Organisationsform die Nation bildet. Wir können uns daher nur mit Mühe vorstellen, daß antikem Denken zufolge ein Begriff wie politische Ökonomie in sich selbst widerspruchsvoll gewesen wäre: was immer ,ökonomisch‘ war, nämlich zugehörig zum schieren Leben des einzelnen und zum Überleben der Gattung, war dadurch bereits als nicht-politisch identifiziert und definiert.“

Doch trotz „politischer Ökonomie“ gilt noch immer: Wer der häuslichen Sphäre zugeordnet wird, ist nicht wirklich politikund repräsentationsfähig. Wie wir wissen, kann, wer Kindermädchen engagiert, nicht Ministerin werden.

Der Haushalt steht gegen die sogenannte Arbeitswelt, die heute Legitimationsinstanz für gesellschaftliches Mitspracherecht ist. Je weiter entfernt man also vom Haushalt lebt, desto größer sind die Chancen auf gesellschaftliche und politische Macht. Man(n) muß dann jedenfalls nicht damit rechnen, gefragt zu werden, wem die Kinder zur Betreuung überlassen wurden. Die neue Justizministerin Bill Clintons ist unverheiratet und kinderlos. Und so sind wir am Ende des Jahrhunderts wieder an dessen Beginn angelangt, beim „Lehrerinnen-Zölibat“ nämlich, mit dem die Forderung nach Teilhabe am „ganzen Leben“ ihren Anfang nahm. Die Arbeit aber, die im „ganzen Haus“ geleistet wird, welche also die Dinge zusammenhält, die Lücken zwischen Körper und Bewußtsein, Natur und Kultur schließt, gilt heute wie ehedem nichts. Wer mit ihr zu tun hat, gilt als „belastet“.

Zunächst politisch belastet, wovon der Prachtband des Deutschen Werkbundes trotz des Einstiegs mit Hannah Arendt nichts zu berichten weiß. „Doppelt belastet“ aber in jedem Fall, was einen Beitrag zur „,Erfindung‘ von Hausfrau und Hausarbeit“ wert ist, der immerhin von „unentlohnter Hausarbeit“ spricht und mit depressionsauslösenden Graphiken die Aufteilung der Hausarbeit zwischen den berufstätigen Geschlechtern veranschaulicht. Doch wer belastet ist, dem soll Entlastung teilwerden: Das ist die eigentliche Geschichte, die das Kompendium erzählt. Die Entwicklung vom ganzen Haus zur Junggesellenmaschine erscheint als die fraglose Erfolgsgeschichte der angeblichen Jungfrauengeburten, die die Industrialisierung ermöglicht. Stammt doch bekanntlich die Milch nicht von der Kuh, sondern von Nestlé.

Die Banane, die für die Produkt-Auszeichnung „Die gute Form“ prädestiniert erscheint, leistet solcherlei Verwirrung naturgemäß Vorschub. Sie hat, wie Ullrich Hellmann zutreffend schreibt, „ein außerordentlich einprägsames Profil, ist von Natur aus sorgfältig verpackt und besitzt eine sympathische Konsistenz. Eigentlich handelt es sich bei Bananen um griffig geformten süßen Brei.“ Gäbe es sie nicht, sie hätte von einem Food-Designer (über den der Artikel von Peter Meroth Auskunft gibt) erfunden werden müssen. Vielleicht muß der aber doch noch eingreifen, denn im neuen EG-Binnenmarkt soll sie uns in ihrer schönen, zollfreien Form der südamerikanischen Banane nicht mehr zugänglich sein! Bei der Banane handelt es sich bekanntermaßen um ein Politikum: Wäre ihre Banalität schon vor der Wiedervereinigung bekannt gewesen, wer weiß, ob die dann überhaupt stattgefunden hätte. Immerhin ist die Banane Synonym für die „United Fruit Company“ und diese wiederum Synonym für den westlich- kapitalistischen Imperialismus schlechthin. Vom Baum der Erkenntnis gegessen zu haben ist noch immer Bedingung für den Verlust der Unschuld.

Hat man den erst hinter sich, gibt es kein Halten mehr. „Voll im Trend: Hedonismus und Individualisierung“ konstatiert die Sinus Lebensweltforschung. „Seit Beginn der 80er Jahre hat sich der Hedonismus-Trend stark ausgebreitet, und zwar ausgehend von Trendsetter-Gruppen aus dem technokratisch-liberalen Milieu, und ist in fast alle anderen Lebenswelten eingesickert.“ Diese werden auf der beigefügten Graphik als eine Regenbogenkoalition von konservativ gehobenem Milieu, über traditionelles sowie traditionsloses Arbeitermilieu, kleinbürgerliches und aufstiegsorientiertes bis zum hedonistischen und schließlich alternativen Milieu identifiziert. Der „Hedonismus- Trend“ ist natürlich eine höchst differenzierte Angelegenheit, läßt er sich doch in nicht weniger als „zwei unterschiedliche Konsum- Mentalitäten aufgliedern: einmal in eine konsummaterialistische Linie als die dominierende Konsumverhaltensweise der ausklingenden 80er Jahre, andererseits in die epikureische Linie, die vorerst nur in kleinen Trendsetter-Segmenten des technokratisch-liberalen Milieus und des konservativ-gehobenen Milieus anzutreffen ist“. Das Glanzlicht der Lebenswelterkundung ist zweifellos die Fotodokumentation von vier Küchentypen. Als da wären: der „moderne Mainstream“, der die „heile Welt“ natürlich hölzern liebt; die „jüngeren Trendfollower“, deren Küchenmotiv „Kommunikation“ heißt; folgen die „etablierten Trendsetter“, deren Küche durch den „hohen Aufforderungscharakter zum Genuß“ charakterisiert ist; und schließlich die „kreative Avantgarde“, die sich – weiß der Himmel warum – um „Integration“ bemüht.

Ich hätte ja gewettet, daß Hedonismus untrennbar mit dem Grillen zu tun hat. Aber Barbecue, das Individualismus, Kommunikation und Integration mangels Herd, Tisch und Stühlen ungemein fördert, und den Genuß am alten Indianerspiel sowieso, erreicht augenscheinlich keines der bunten Konsummilieus.

Der „Küche von der Stange“ jedenfalls droht das Aus. Gemeint ist damit die Einbauküche. In Zeiten epikureisch gewürzten Hedonismus wird ihr Spargrundriß peinlich bewußt. Bei 20 Quadratmetern kann nur die Bulthaupt-Werkbank vor dem Sturz ins Leere retten. Denn die berühmte Frankfurter Küche von Grete Schütte-Lihotzky, die noch immer Ur- und Vorbild jeder modernen Küche ist, war gerademal 6,5 qm groß. Wie es Joachim Krausse in seinem Aufsatz zur Frankfurter Küche in dankenswerter Deutlichkeit darlegt, war die Notwendigkeit kleiner Grundrisse ihr Entwicklungsanlaß. Das Argument, „die Frau von der Fron der Hausarbeit zu entlasten“ (Michael Andritzky in seinem Beitrag über Otl Aicher und bulthaupt) war nur die (psychologische) Rationalisierung jener vorausgegangenen (ökonomischen) Rationalisierung. Ernst May, Stadtbaurat in Frankfurt, der Grete Schütte-Lihotzky mit dem Küchenentwurf beauftragt hatte, fand den Ausweg aus der Wohnungsmisere der 20er Jahre in billig zu erstellenden Kleinstwohnungen. Absperren (Küche), Wegklappen (Betten), Stauraum in den Wänden (Einbaumöbel) hieß die Lösung, um dort Platz zu schaffen, wo eigentlich keiner war. Natürlich ging es auch um neue hygienische und sozial-hygienische Standards, Badezimmer und Geschlechtertrennung der größeren Kinder. So wurde aus dem Tohuwabohu der Wohnküche, die, wie Schütte-Lihotzky rückblickend sagte, „eine in unseren Augen niedrigere Wohnform war, weil alles, der Schmutz, der Dreck, das Gemüseputzen, die Schalen aller Art, der Abfall, das alles war im Wohnzimmer, nicht wahr“, die minimalistisch-rationelle moderne Küche, pflegeleicht und abwischbar, hinter der die Türe zugemacht wurde. Hygiene war für die Wiener Architektin, die 1921 bei Adolf Loos beginnt, im Rahmen der Siedlerbewegung Hütten und Notwohnungen zu entwerfen, ein besonderes Anliegen. Anfang der 20er Jahre starben ihre Eltern an Tuberkulose, und sie selbst verbrachte vor ihrer Übersiedlung nach Frankfurt ein dreiviertel Jahr in einer Lungenheilanstalt. „Tuberkulose war die Volkskrankheit in Wien nach dem Ersten Weltkrieg, durch Hunger und die furchtbaren Wohnverhältnisse verursacht.“

Abhilfe für solche Verhältnisse schaffen zu wollen, galt allgemein als „linkes“ Programm. Daß May mit Grete Schütte-Lihotzky eine Frau zur „Küchenchefin“ bestellte, war durchaus als politischer Schachzug gedacht. Als Frau sollte es ihr leichter fallen, die Unterstützung der Frauenverbände zu gewinnen, die ihr Küchenprogramm nicht gleich mit drohendem Sozialismus verwechseln durften.

Diejenigen, die dann tatsächlich von „Kulturbolschwismus“ sprachen, werden im Werkbundkatalog nicht erwähnt. Der Weg „von der dunklen zur hellen Küche“ (Eva Stille) bleibt ohne Schatten. Mutterkreuz und Drittes Reich sind ersatzlos gestrichen. Dabei wurde in dieser Zeit durchaus eine Menge für den modernen Konsumismus getan, dem der Band huldigt. Nur im Beitrag von Ullrich Hellmann über die Geschichte kalter Nahrungsmittel zeigt wenigstens der Abschnitt über „die ,Kältepolitik‘ der Nazis“, wie hier, unter anderem mit dem „Volkskühlschrank“, die Grundlagen für die Industrialisierung von Haushalt und Lebensmittelversorung geschaffen wurden, die erst in den 50er Jahren endgültig realisiert wurde.

Was nun das Leben nach dem Tod angeht, muß noch Martin Beutelspachers Beitrag über das „Kulturgut Kaffee“ erwähnt werden, die Droge also, die als der „große Ernüchterer“ der abendländischen Zivilisation auf ihrem Weg der stetigen Rationalisierung biochemischen Beistand gewährte. Nicht nur Voltaire – 50 Tassen am Tag –, sondern auch Kant war kaffeesüchtig. Und er sprach – der Warterei auf seinen Kaffee überdrüssig – nicht die schönen (Gernhardtschen) Worte, „gibt es hinterher noch Torte?“, sondern meinte nur böse: „Nun, darüber kann ich ja sterben; und in jener Welt will ich keinen Kaffee trinken.“

Michael Andritzky (Hsg.): „OIKOS. Von der Feuerstelle zur Mikrowelle. Haushalt und Wohnen im Wandel.“ Anabas Verlag 1992, 516 Seiten, 128 DM.

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